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Urs Kryenbühls Tag der Befreiung

Urs Kryenbühl kann durchatmen. Der Schwyzer befreit sich mit seiner ersten Fahrt auf der Streif nach seinem schlimmen Sturz aus einer mental schwierigen Lage.

Agentur
sda
21.01.22 - 08:00 Uhr
Ski alpin
Urs Kryenbühl bei seiner ersten Fahrt auf der Streif ein Jahr nach dem fürchterlichen Sturz beim Zielsprung
Urs Kryenbühl bei seiner ersten Fahrt auf der Streif ein Jahr nach dem fürchterlichen Sturz beim Zielsprung
KEYSTONE/EPA/CHRISTIAN BRUNA

Es war ein besonderer Tag für Kryenbühl. Der Tag mit dem ersten Training für die zwei Abfahrten auf der Streif brachte ihn zurück auf jene Piste, die ihn vor einem Jahr auf brutalste Weise abgeworfen hatte. Er war beim Zielsprung zu Fall gekommen und hatte sich einen Kreuzband- und Innenbandriss im rechten Knie, einen Schlüsselbeinbruch und eine Gehirnerschütterung zugezogen. Erinnerungen kamen auf an den Sturz von Daniel Albrecht zwölf Jahre zuvor. Der Walliser hatte ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten und war längere Zeit im künstlichen Koma gelegen.

Kryenbühls Verletzungen waren verhältnismässig schnell verheilt. Er hatte auf eine Knieoperation verzichtet und sich für eine konservative Behandlung entschieden. Er vertraute auf die Fähigkeiten von Sepp Marty, des Vaters seiner Freundin. Marty betreibt in der Schwyzer Gemeinde Unteriberg eine Naturheilpraxis. Er behandelte seinen Patienten mit der in der Schweiz noch nicht allzu verbreiteten Scenar-Therapie. Mit der Methode wird mit elektrischen Impulsen die Selbstheilung des Körpers angeregt.

Kryenbühl merkte schnell, dass er den richtigen Entscheid getroffen hatte. «Das Knie war überhaupt nie ein Problem. Ich hatte in den vergangenen Monaten nie Schmerzen und auch nie das Gefühl, das Knie könnte den Belastungen nicht standhalten.»

Der wunde Punkt

Doch was war mit den seelischen Wunden? Wie sehr belastete der Sturz Kryenbühls Psyche? Im Zuge der Saisonvorbereitung hatte er davon gesprochen, dass die Fortschritte auf mentaler Seite grösser gewesen seien, der Körper bei der Gesundung nicht habe mithalten können. Das war aber eine Momentaufnahme. Die mentalen Baustellen wurden wieder grösser - und blieben Kryenbühls wunder Punkt auf dem Weg zurück.

Und nun also an diesem Mittwoch die ultimative Prüfung. Die Nacht davor habe er noch gut geschlafen, erzählte Kryenbühl. Auch die Tage zuvor seien normal verlaufen. Nach der Ankunft in Kitzbühel machte er sich zu Fuss auf zum Zielsprung. Er wollte sich in Ruhe ein Bild machen und merkte, dass «es halt trotzdem nicht das Gleiche war wie an anderen Orten». Am Morgen des ersten Trainingstages kam die grosse Nervosität. «Ich habe gewusst, dass der Tag gekommen ist, an dem sich der Kreis für mich schliesst.»

Die Spannung hielt an, bei der Bergfahrt ins Startgelände, bei den letzten Vorbereitungen auf seine Fahrt. «Ich versuchte, mich vor dem Start mit Atemtechnik zu beruhigen. Doch besser wurde es nicht. Ich war froh, als ich endlich losfahren konnte.»

Dann, kurz vor dem Ziel, der Sprung. «Irgendwie traute ich dem Ganzen doch nicht. Je näher ich der Stelle kam, desto kribbeliger wurde ich. Ich richtete mich auch ein bisschen auf.» In jenem Moment nützten auch die vielen hundert visualisierten Sprünge nicht, die er unter anderem mit Hilfe einer VR-Brille absolvierte, und sich damit, wie es das (englische) Kürzel verrät, in einer «virtuellen Wirklichkeit» bewegte.

Kryenbühl meisterte die Passage ohne grosse Mühe. Im Ziel war die Erleichterung entsprechend gross. «Einige Leute klatschten, als ich abschwang. Ich fühlte mich wie ein König. Ich jubelte. Für mich war es ein grosser Tag.»

Der hohe Stellenwert

Es war ein Tag mit hohem Stellenwert - in einem Jahr, das Kryenbühl weiteres Ungemach brachte. Für seinen Entscheid, auf die Schutzimpfung gegen das Coronavirus zu verzichten, musste er zum Teil harsche Kritiken hinnehmen. Als Ungeimpfter durfte er nicht nach Kanada reisen und verpasste deshalb die ersten Speed-Rennen des Winters in Lake Louise.

Dazu lief es auch sportlich nicht nach seinen Vorstellungen. Kryenbühl war mit zwei 16. Plätzen in Super-G und Abfahrt in Beaver Creek, Colorado, ansprechend in die Saison gestartet, doch dann ging es mit den Ergebnissen in die falsche Richtung. «Vielleicht wollte ich es zu sehr erzwingen, auch deshalb, weil es in der letzten Saison bis zum Sturz so gut gelaufen war», blickte Kryenbühl zurück. «Ich musste aber lernen, dass die Rennen keine Selbstläufer sind und alles zusammenpassen muss, um bei den Besten zu sein. In diesem Winter ist mir oft der eine Fehler zuviel unterlaufen.»

Es soll ab sofort wieder besser zusammenpassen. Für Kryenbühl steht wieder die Zukunft im Zentrum. Das schlimmste Kapitel aus der Vergangenheit hat er getilgt. Mit einem einzigen Sprung. An diesem besonderen Tag in Kitzbühel.

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