×

Marco Odermatt sieht trotz vier Kugeln noch Steigerungspotenzial

Marco Odermatt gewährt nach Saisonschluss Einblick in seinen Sommer-Fahrplan und sein Tagebuch. Zudem spricht der dreifache Gesamtweltcupsieger über seinen neuen Konditionstrainer Alejo Hervas.

Agentur
sda
12.04.24 - 19:07 Uhr
Ski alpin
Drei kleine und eine grosse Kristallkugel, dazu eine noch nie dagewesene Dominanz im Gesamtweltcup: Trotzdem sieht Marco Odermatt noch Verbesserungsmöglichkeiten
Drei kleine und eine grosse Kristallkugel, dazu eine noch nie dagewesene Dominanz im Gesamtweltcup: Trotzdem sieht Marco Odermatt noch Verbesserungsmöglichkeiten
KEYSTONE/URS FLUEELER

Die Sonne scheint an diesem Freitagnachmittag über Engelberg. Im Dorf stehen Männer und Frauen mit kurzen Hosen, die Ski in der Hand. Während die Winter-Saison für die Touristen im Titlis-Gebiet noch bis im Mai andauert, ist jene der Skirennfahrer vorbei. Das letzte Weltcuprennen liegt drei Wochen zurück. Nach dem Saisonfinale in Saalbach wurden noch letzte Materialtests durchgeführt, nun lädt Stöckli zu einer abschliessenden Pressekonferenz ein.

Hoch über Engelberg thront das Hotel Terrace. Eine kurvenreiche Strasse führt vom Dorf hinauf zum pompösen, in die Jahre gekommenen Komplex. Marco Odermatt hat Mühe, seinen langen Dienstwagen durch die schmalen Haarnadeln zu manövrieren. Slalom? Nicht seine Disziplin. Und dann auch noch bergauf. Viel lieber lässt er sich auf zwei Brettern rasant den Hang hinuntertreiben. Er tat dies in der vergangenen Saison so gut wie kein anderer Athlet, gewann die kleine Kristallkugel im Riesenslalom, im Super-G und in der Abfahrt und zum dritten Mal die grosse Kristallkugel für den Gewinn des Gesamtweltcups. Letztere notabene mit 874 Punkten Vorsprung auf seinen ersten Verfolger und Teamkollegen Loïc Meillard.

Viele Höhepunkte, wenig Tiefschläge

Dass dies ein neuer Rekord sei, das habe er gar nicht gewusst, sagt Odermatt. Er hat im abgedunkelten Erdgeschoss des Hotels Platz genommen, hinter ihm blaue, rote, schwarze und silberne Ski, die neusten Modelle aus dem Hause Stöckli, dazu die gewonnenen Kristallkugeln. Neben ihm sitzt Moderator Christian Graf. Die beiden sprechen über viele Höhepunkte und wenig Tiefschläge, über Odermatts Doppelsieg am Lauberhorn, seine Aufholjagd im zweiten Riesenslalom-Lauf in Schladming, Verletzungen von Teamkollegen und Konkurrenten, die geplatzte Serie im letzten Rennen in Saalbach und ein Tagebuch, in welchem Odermatt das Geschehene weniger für die Nachwelt als vielmehr für sich selbst und seine Mentaltrainerin festhält.

Der Eintrag am 16. März 2024 trägt die Überschrift «Die grösste Enttäuschung der Saison». Im Grunde genommen war es die einzige Enttäuschung der Saison, die Krone hatte sich Odermatt da längst erneut aufgesetzt, in beeindruckender Manier neun von neun Riesenslaloms der Saison gewonnen. Das Tüpfelchen auf dem i hätte es werden sollen, der perfekte Winter in dieser Disziplin. Dann der Innenskifehler, die Serie gerissen, die Marke von Überfigur Ingemar Stenmark (vorerst) ausser Reichweite. «Klar tat es im ersten Moment weh. Aber ich habe es schnell abgehakt. Wenn ich dort richtig durchgefahren wäre, hätte es wahrscheinlich wieder gereicht.» Aus dem Mund von Odermatt, diesem 26-jährigen Alleskönner, tönen Aussagen wie diese weder überheblich noch arrogant. Vielmehr widerspiegeln sie sein immenses Selbstvertrauen, das er seit seinem Debüt im Weltcup beim Saisonfinale 2016 in St. Moritz gesammelt hat wie Weltcuppunkte.

Odermatt, der Teamplayer

Nicht von ungefähr kamen in der jüngeren Vergangenheit Vergleiche mit Roger Federer auf. Beide sind sie Schweizer, beide sind sie in der Blüte ihrer Karriere kaum zu bezwingen. Sie sind eloquente Markenbotschafter, pflegen innige Freundschaften zu ihren Konkurrenten. Und schliesslich sind, obwohl Einzelsportler, beides Teamplayer.

Sinnbildlich dafür eine Aussage von Thomas Tumler, Marken- und Teamkollege sowie langjähriger Weggefährte von Odermatt, der am Freitagnachmittag ebenfalls zugegen ist in Engelberg und über seinen grössten Erfolg in der vergangenen Saison spricht. Beschert hat ihm diesen Odermatt, der als Führender in den zweiten Lauf des Riesenslaloms in Saalbach startet und Tumler auf den 4. Platz verdrängen könnte. «In dem Moment, als ich gesehen habe, dass Marco auf dem Innenski steht, dachte ich nicht: 'Yes, jetzt bin ich auf dem Podest.' Es überwog vielmehr die Enttäuschung, dass der Rekord von ihm kaputt ist», sagt Tumler.

Odermatt kümmere sich um die Teamkollegen, habe stets ein offenes Ohr, kontrolliere «seine Schäfchen» und schaue, dass alle wohlauf seien. Im Sog von Odermatt schafften sowohl im Riesenslalom als auch in den Speeddisziplinen viele Schweizer Fahrer persönliche Bestwerte. Auf der anderen Seite profitiert der Ausnahmekönner von der guten Stimmung im Team. Eine Win-win-Situation.

Alejo Hervas soll neue Impulse setzen

Und doch braucht es stets neue Impulse. Stillstand ist Rückschritt. So haben sich Odermatt und sein langjähriger Konditionstrainer Kurt Kothbauer in gegenseitigem Einvernehmen nach der Saison getrennt. «Ich habe aus meiner Sicht das Optimum aus Marco herausgeholt. Ich wüsste nicht, wie ich ihn noch besser machen soll. Und deshalb braucht Marco neue Inputs von einem anderen Trainer», begründete der Österreicher den Schritt.

In Engelberg spricht Odermatt über seinen neuen Konditionstrainer, ohne seinen Namen zu nennen. Erst auf Nachfrage in der Medienrunde durch die Nachrichtenagentur Keystone-SDA lässt er die Katze aus dem Sack und bestätigt, was längst gemunkelt wurde: «Ja, Alejo Hervas und unser Technik-Team werden künftig zusammenarbeiten.»

Hervas hielt bis zum Saisonfinale in Saalbach Lara Gut-Behrami fit, wurde von der 32-jährigen Tessinerin jedoch Knall auf Fall nach Hause geschickt, als bekannt wurde, dass er mit dem Männerteam von Swiss-Ski verhandelt. Der Spanier hatte einst erklärt, mit Gut-Behrami zusammenzuarbeiten, bis diese ihre Karriere beende. «Es ist nicht super gelaufen, wir haben uns aber immer korrekt verhalten und deshalb kann ich auch gut dahinterstehen», so Odermatt.

Jeder Trainer habe andere Ideen, andere Philosophien, wie man etwas angehe. «Mir war es wichtig, jemand mit viel Erfahrung zu holen. Der weiss, was es heisst, Rennen zu gewinnen und wie lange die Tage dann sind. Ich brauche niemanden, der mir sagt, das Lehrbuch schreibt dieses und jenes vor. Wenn du in fünf Tagen fünf Rennen hast, kannst du das Lehrbuch ziemlich schnell über den Haufen werfen und musst auf den Körper hören. Regeneration steht im Vordergrund.»

Genau dieses Wissen war es, das auch Gut-Behrami so an Hervas geschätzt hat und das Odermatt und Co. in der nächsten Saison noch besser machen soll. Wenn das denn überhaupt geht. Wobei sich der Dominator der vergangenen drei Winter sicher ist: «Potenzial gibt es immer, man kann sich stets verbessern.»

Bleibt zum Schluss die Frage, was nach der Saison noch ansteht. «Ferien habe ich direkt nach dem Weltcupfinale gemacht», sagt Odermatt. Ende April sei er in Spanien unterwegs, besuche in Barcelona RedBull Alinghi, schaue mit Gino Caviezel und Justin Murisier in Jerez bei der MotoGP vorbei. «Wir machen aber nicht nur Ferien, sondern bleiben noch ein paar Tage in der Heimat unseres neuen Konditionstrainers.» Es soll ein erstes Kennenlernen werden, «hoffentlich noch nicht allzu streng», scherzt Odermatt.

Bevor er jedoch an schweisstreibende Konditionseinheiten denken kann, geht es im Dienstwagen wieder die kurvige Strecke hinunter. Schweissperlen werden dabei keine von seiner Stirn perlen. Odermatt wird aus der «Besichtigung» gelernt haben und entsprechend Marge einbauen.

Die Kommentarfunktion wurde für diesen Artikel deaktiviert.
Mehr zu Ski alpin MEHR