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Die Kultur der Jenischen: Da, wo das Herz ist

Elvis Kollegger aus Cazis ist Protagonist im Film «Ruäch – eine Reise ins jenische Europa» – ein Porträt.

Bündner Woche
08.09.23 - 04:30 Uhr
Menschen & Schicksale
Stolz: Elvis Kollegger in seinem Garten, neben ihm hängt die jenische (und die Bündner) Flagge.
Stolz: Elvis Kollegger in seinem Garten, neben ihm hängt die jenische (und die Bündner) Flagge.
Bild Karolina Sarre

von Karolina Sarre

Elvis Kollegger sitzt auf seiner Terrasse und lässt den Blick über sein Eigenheim schweifen. Er wohnt in einem selbst gebauten Haus in Cazis. Elvis Kollegger ist ein Jenischer aus Graubünden mit einer aussergewöhnlichen Lebensgeschichte.

Die Jenischen sind ein hiesiges Traditionsvolk, das sich historisch meist durch eine reisende und nicht-sesshafte Lebensweise auszeichnet. Sie sind eine Minderheit, die nur in der Schweiz als solche anerkannt ist. Ihre Lebensweise, ihre Sprache und ihre Kultur werden seit jeher marginalisiert. Heute sind Jenische kaum noch als «Fahrende» zu bezeichnen, weil sie seitens der Behörden häufig dazu gezwungen wurden, semi-nomadisch oder sesshaft zu werden. Manche Jenische hingegen waren schon immer an einem Ort verwurzelt und reisten nie.

«Ich hab alles da»
Elvis Kollegger

Vor Kurzem feiert Elvis Kollegger seinen 60. Geburtstag auf seiner Terrasse, dazu lädt er Menschen ein, die ihn teilweise schon ein Leben lang begleiten. Mit Freude bewirtet er seine Gäste. Er ist stolz auf sein Heim in Cazis, das er in Eigenarbeit errichtet hat und an dem er seit 22 Jahren immer noch herumbastelt. «Ich hab alles da», sagt er und zeigt auf seine selbst gebaute Bar, die Feuerstelle und das Haus. Um ihn herum – auf dem jenischen Platz – wohnen seine Cousins und weitere Verwandte. Familie und Zusammenhalt sind ein elementarer Teil in seinem Leben und in dem vieler anderer Jenischer, wie er erzählt.

Hinter der Holzmauer im Garten rauscht ab und an ein Zug vorbei, für Elvis Kollegger ist es der tägliche Wecker um halb sechs. Hinter den Gleisen erstrecken sich die Bündner Berge, die ein eindrucksvolles Panorama erzeugen. Als Kind ist er jeden Sommer in den Bergen, seine Eltern bewirtschaften eine Alp, er muss mithelfen und Kühe hüten. «Ich kenne dort alles.» Ihm huscht ein Lächeln über das Gesicht, während er von damals berichtet. Doch seine Kindheit war nicht immer einfach. Elvis Kollegger wird 1963 in Roveredo geboren. Er wächst in einem Holzwohnwagen auf einem jenischen Platz im Wald auf, um ihn herum wohnt seine ganze Familie. Abends sitzen sie immer gemeinsam am Feuer, das Gemeinsame wird hier grossgeschrieben. Elvis Kollegger wird streng erzogen, es wird von ihm mit Selbstverständlichkeit erwartet, dass er von klein auf mithilft und arbeitet. Zusammen mit anderen Familienmitgliedern geht er hausieren, verkauft Knoblauch und Seifen. Später schleift er Messer, wie schon sein Vater und Grossvater auch. «Ich bin mit der jenischen Kultur aufgewachsen», sagt er, seine blauen Augen leuchten und man spürt seinen Stolz auf die eigene Identität. Die jenische Kultur wird Elvis Kollegger allerdings zum Verhängnis, sobald er in San Vittore und im tessinischen Cresciano zur Schule geht. Er wird von Klassenmitgliedern gemobbt, diskriminiert und beleidigt, weswegen er nach ein paar Jahren frühzeitig die Schule verlässt – so wie viele andere Jenische auch. Er spricht davon, wie seine Schwester von einem Lehrer geschlagen wird und anschliessend blutet. Nicht einmal Lehrpersonen setzen sich für die jenischen Kinder ein. «Sie hat es nicht interessiert, was aus uns wird», berichtet er und zündet sich nachdenklich eine Zigarette an. Mit Diskriminierung aufgrund seiner Herkunft hat Elvis Kollegger nicht nur in der Schule zu kämpfen, später wird er noch öfter wegen des Jenisch-Seins Probleme haben.

Auch hier leidet er unter Diskriminierung

Aufgrund fehlender Bildung kann Elvis Kollegger keine offizielle Lehre absolvieren. Mit 14 hat er allerdings Glück und kann in einer Küche in Bellinzona als Tellerwäscher anheuern. Später repariert er Autos und wechselt Reifen. Doch auch hier leidet er unter Diskriminierung und wird gefeuert. Besonders im Tessin sei die Feindseligkeit gegenüber Jenischen gross, berichtet er. Deshalb verschlägt es ihn nach Zürich, wo er viele andere Jenische kennenlernt. Im Gegensatz zu ihm haben sie oft eine bessere Bildung und können eine Lehre absolvieren – in Zürich scheint das Leben für ihn einfacher. Er schlägt sich auf der Strasse durch, geht hausieren und wohnt in einem Bus. All das ist immer noch besser, als zuhause mit strengen Eltern zu leben. Er arbeitet als Türsteher in verschiedenen Clubs an der Langstrasse oder bei Sicherheitsfirmen, um über die Runden zu kommen. Die Zeiten waren nicht leicht, «da hat man sich immer beweisen müssen, wie mein ganzes Leben lang», gibt Elvis Kollegger zu. Trotzdem kann er sein Ding machen und sich irgendwann eine Barracke am jenischen Platz in Leutschenbach leisten. Während seiner zehn Jahre in Zürich heiratet er und wird Vater von zwei Kindern.

 

 

In einem ähnlichen Wagen sind Elvis Kolleggers Grosseltern damals gereist. Heute verkauft er seine Wagen, die er in feinster Handarbeit herstellt. Bild Karolina Sarre
In einem ähnlichen Wagen sind Elvis Kolleggers Grosseltern damals gereist. Heute verkauft er seine Wagen, die er in feinster Handarbeit herstellt. Bild Karolina Sarre

Es ist keine glückliche Ehe, nach der Scheidung will Elvis Kollegger die Welt sehen und reist in die Karibik. Nächster Halt: Santa Domingo in der Dominikanischen Republik. Hier verurteilt ihn niemand wegen seiner Herkunft, «jenisch» ist dort niemandem ein Begriff – er wird akzeptiert, so wie er ist, und erklärt den Menschen dort, wie Jenische leben. Mittlerweile spricht er sieben Sprachen fliessend und heiratet erneut, er bekommt einen Sohn. Doch nach 14 Jahren zieht es ihn wieder zurück in die Schweiz. Ausschlaggebend ist der niedrige Lohn. Zudem belasten Einbürgerungsschwierigkeiten seiner Ehefrau die Beziehung, nach zwei Jahren zerbricht auch diese Ehe.

Seit 22 Jahren ist er nun in Cazis, er bezeichnet sich selbst als einen jenischen Bündner-Patrioten. Elvis Kollegger ist froh, ein schönes Eigenheim zu besitzen und seine Familie jeden Tag um ihn herum zu haben. Er baut kleine Wagen, die denen seiner Grosseltern gleichen, und verkauft sie. Auch zu den Caznerinnen und Caznern und zur Gemeinde hat er einen guten Draht, sie bieten ihre Hilfe an, auch weil sie wissen, dass viele Jenische nicht lesen und schreiben können. Früher ist es anders gewesen: «Wir wurden nie akzeptiert», erzählt Elvis Kollegger mit ernstem Blick. Jenische Kinder werden zwischen 1926 und 1973 vom «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse», das zur Pro Juventute gehört, von ihren Familien meist gewaltsam getrennt und in Heimen oder Pflegefamilien untergebracht. Viele von ihnen erfahren Gewalt und werden als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Elvis Kollegger kennt Personen, denen so ein Schicksal zugestossen ist – «das kann niemand nachvollziehen», sagt er. Diese Fälle seien kaum aufgearbeitet worden und deswegen sei es wichtig, dass sich die Leute für die Jenischen interessierten, sagt Elvis Kollegger. Er appelliert an die Gemeinden, mehr jenische Plätze in der Schweiz zu bauen – im Moment gibt es zu wenig für rund 35 000 Jenische. Der Film «Ruäch – eine Reise ins jenische Europa», der aktuell in den Kinos läuft und in dem Elvis Kollegger der Protagonist ist, bringt solche Themen in die Öffentlichkeit, trägt dabei zum Bewusstsein und Verständnis für jenische Menschen und ihre Lebensweisen bei. «Wir sind ein Kulturvolk und müssen schauen, dass wir diese Kultur behalten», betont Elvis Kollegger selbstbewusst. Er fasst sich dabei an sein Tattoo auf der linken Brust, auf dem ein jenischer Wagen zu sehen ist: «Da, wo das Herz ist», sagt er und lacht.

Der Film
Im Dokumentarfilm «Ruäch – eine Reise ins jenische Europa» von Andreas Müller, Simon Guy Fässler und Marcel Bächtiger fahren die beiden Regisseure mit ihrem Wohnmobil von Österreich über die Täler Graubündens bis ins französische Savoyen. Über insgesamt sieben Jahre treffen sie dabei auf verschiedene Jenische und dokumentieren ihre unterschiedlichsten Begegnungen.
Den Machern gelingt ein eindrucksvoller Roadmovie, in dem Jenische eine Plattform erhalten. Er trägt zur Sichtbarkeit der jenischen Kultur und zur Aufarbeitung der Geschichte bei. Der Film feierte am 29. August in Chur Vorpremiere und ist seit dem 31. August schweizweit zu sehen.

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Danke. Elvis, für vielen Informationen für früher und jetzt, heute im wunderbaren Dokumentarfilm Ruäch. Ich habe viel Verständnis für den Freiheitswillen dieser Kultur gewonnen. Ich durfte noch 2 von Dir gebaute kleine Wagen bewundern. Chapeau ! Leider waren wir wenig Zuschauer; aber das ist häufig so bei solchen Film-Perlen, die ich meistens nur im Bourbaki in Luzern finde.
Peter Sommer

Danke. Elvis, für Deinen hoch interessanten Bericht; ich werde den Film morgen Samstag im Bourbaki in Luzern anschauen. 7 Jahre >> viele Begegnungen und Erlebnisse !
Mein Vater war ein Verdingbub im Emmental; Verdingkinder hatten es auch nicht leicht.
Peter Sommer.

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