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«Du hast keinen Führerschein? Du bist doch 30!» So what?!

Unser Autor gehört seit Neustem zum fahrenden Volk. Bis zu seinem Führerschein musste er sich aber einiges anhören.

Jürg Abdias
Huber
31.05.23 - 16:06 Uhr
Auch Beifahrer sind normale Menschen: Jahrelang war unser Autor nur auf dem Beifahrersitz. 
Auch Beifahrer sind normale Menschen: Jahrelang war unser Autor nur auf dem Beifahrersitz. 
Bild Envato

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Ihr werdet es kaum glauben, aber es gibt tatsächlich Menschen, die ein «gewisses» Alter haben und trotzdem nicht im Besitz eines Führerscheins sind. Verrückt, oder nicht? Nö, ist es nicht. Es gibt genug Gründe, warum Menschen nicht Autofahren können oder wollen. Einige fühlen sich hinter dem Steuer nicht wohl, andere können sich die ungefähr hundert Franken pro Fahrstunde nicht leisten und noch einmal andere waren auf einen fahrbaren Untersatz gar nie angewiesen. 

Hallo, ich bin der Jürg, welcher im letzten Jahr 30 wurde und «erst» seit diesem April im Besitz eines Führerscheins ist. Geboren und aufgewachsen in der Stadt Zürich, genauer gesagt im Kreis 12 in Schwamendingen. Statistisch gesehen ist dieser Kreis das ärmste Quartier von Zürich und weist mit 43,6 Prozent den höchsten Ausländeranteil in Zürich auf. Das bedeutet: Jeder Rappen zählt. So war es schon früher und so ist es auch heute – auch während meiner Jugend.

An ein Auto war gar nicht zu denken. Warum viel Geld für einen eigenes Auto ausgeben, wenn man Bus, Tram oder Zug nutzen kann? Vor allem Busse und Trams waren damals mein «Auto». Die Buslinien 62 und 61 brachten mich damals ins Fussballtraining nach Oerlikon, die Linie 94 ins Einkaufszentrum Glattzentrum und die Trams mit der Nummer sieben und neun ermöglichten es mir, innerhalb von 15 Minuten in der Innenstadt zu sein. 

Ich muss euch nicht sagen, wie unfreundlich die Stadt Zürich für Autos ist. Jeder, der schon einmal dort war – und das sind sicherlich viele, kann mit eigenen Augen sehen, wie stressig dort der Strassenverkehr ist und dass die Parkplatzsituation nicht gerade einladend ist. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass Zürcherinnen und Zürcher immer stärker auf den öffentlichen Verkehr und das Velo setzen. Gerade einmal 20 Prozent der Einheimischen betrachten das Auto noch als ihr Hauptverkehrsmittel.

Bis zu meinem Umzug nach Chur im Jahr 2017 war es für mich also völlig normal, keinen Führerschein zu haben. Auch ein paar meiner Zürcher Freunde, von denen einige auch über 30 Jahre alt sind, besitzen keinen Führerschein. Es gibt also kein Grund, deswegen ein grosses Fass aufzumachen. Nicht so in Graubünden.

Hier ist es ein Muss, ein Auto zu haben – vor allem wenn man nicht in der Stadt Chur aufgewachsen ist. Da scheint es, als wäre den Bündnern der Führerschein schon fast in die Wiege gelegt. Und das ist auch völlig in Ordnung. Ein Auto im Kanton Graubünden zu haben, macht absolut Sinn – besonders wenn man die Situation im öffentlichen Verkehr mit der Stadt Zürich vergleicht. Das sehe ich vollkommen ein. Ebenfalls ist es in Graubünden oft einmal schwer, ohne Auto schnell von A nach B zu kommen.

Wenn man hier jedoch erwähnt, dass man noch keinen Führerschein hat, geht gefühlt ein Raunen durch den Kanton. Und wenn man noch in einem Alter ist, von dem erwartet wird, dass solche Dinge selbstverständlich sein sollten, dann sind die Leute völlig perplex. «Ich komme aus Zürich, da braucht man kein Auto. Und Parkplätze kann man auch vergessen», entgegnete ich zu Beginn meiner Zeit in Chur halb entschuldigend. Viele verdrehten die Augen, begannen zu kichern oder sagten einfach nichts mehr dazu. Es schien mir, als fehlte mir ohne Führerschein ein Stück Männlichkeit oder dass ich nicht erwachsen genug sei.

Je öfter ich auf mein Nichtbesitzen eines Führerscheins angesprochen wurde, desto weniger Vorwürfe machte ich mir selbst. Am Ende hatte ich kein Mitleid mehr mit mir selbst, sondern mit diesen Autofahrern, die dieses Thema immer wieder aufbrachten. Sie können zwar nicht wissen, wie es ist, nicht auf ein Auto angewiesen zu sein. Dennoch kann man sich irgendwie vorstellen, warum eine Person keinen Führerschein hat. Es gibt genug Gründe – einige davon habe ich zu Beginn dieses Blogs aufgezählt.

An das fahrende Volk: Wenn euch eine 30-, 40- oder 50-jährige Person (oder egal in welchem Alter) sagt, dass sie keinen Führerschein hat, dann unterdrückt das laute «Was?!» in eurer Kehle. Nehmt es so hin, wie es ist. Ihr könnt die Situation nicht ändern. Nur die Person selbst kann es ändern, wenn sie es wirklich will. Mit dummen Kommentaren oder auch nur einem Blick macht ihr es der anderen Person nicht gerade einfach. Also lasst es einfach sein.

Und an das (noch-)nicht fahrende Volk: Jeder reagiert anders auf solche Situationen. Das ist mir bewusst. Einige beschäftigt es noch Tage danach, während es bei anderen zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgeht. Letzteres sollte eigentlich so sein – ist aber nicht immer einfach. Aber Vorwürfe solltet ihr euch nie machen. Denn die andere Person reagiert so, weil sie es vermutlich nicht anders kennt. Für die Person ist es vielleicht selbstverständlich, dass erwachsene Menschen einen Führerschein haben sollten. Es steht nicht im Gesetz, dass ihr ab dem 18. Lebensjahr sofort zur Fahrschule rennen müsst. Also macht euch keine Sorgen. Macht euren Führerschein, wenn ihr es wollt und es euch finanziell leisten könnt. Und wenn ihr das nicht wollt, ist das auch kein Weltuntergang. Es gibt schlimmere Dinge, als keinen Führerschein zu haben.

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Hallo Jürg,
dieser Blog ist vielleicht eine Spur "unabhängiger" als der Durchschnitts(auto)insasse in GR, aber doch entfernt von Unabhängigkeit.
Im Gegensatz zu Zürich, Kreis XY, sei es in GR quasi selbstverständlich, als Fahrender (BMW-Slogan: Aus Freude am Fahren) Umwelt und Gesundheit zu überfahren? Nein. Vor weniger als 100 Jahren galt im GRössten Kanton Automobil-Verbot. (Den Beleg, dass das heute erst recht noch ginge, bin ich bereit zu erbringen, wenn das nur jemand unterstützen würde seitens Kanton oder Migros-Kulturprozent oder irgendwer.) Ach, wo ist nur die schöne Zeit (und Artenvielfalt) geblieben?
PS (das bedeutet nicht Pferdestärke via Treibstoff): Ich frage seit jeher, warum wir in GR nicht zumindest einen autofreien Ort haben, denn Schweiz Tourismus listet in der Schweiz elf.
PPS: Mein Angebot an GR steht nach wie vor (aber nicht ewig), die Weltpremiere Edental (Gesundheitstourismus auch für Einheimische) hier zu verwirklichen, es wäre sogar noch besser als vor 1925.
Jürg schreibt:
Viele verdrehten die Augen, begannen zu kichern oder sagten einfach nichts mehr dazu. Es schien mir, als fehlte mir ohne Führerschein ein Stück Männlichkeit oder dass ich nicht erwachsen genug sei.
Ich schreibe:
Wahre Männlichkeit ist, als Fels im Meer der Lemminge stehen zu können, selbst wenn man der Einzige ist.
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prolitteris