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«Es wird zu einer Änderung des heutigen Systems kommen»

Das Krisenjahr 2020 ist endlich vorbei. Wird jetzt alles besser? Mit einem neuen Jahr verbinden sich viele Wünsche und neue Hoffnung. Sind sie berechtigt? Zukunftsforscher Morell Westermann aus Gommiswald sagt, was sich alles ändern könnte. Und – ob wir für 2021 zuversichtlich sein dürfen.

Fabio
Wyss
04.01.21 - 04:30 Uhr
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Bild Fabio Wyss
Er analysiert die Megatrends, die auf unsere Gesellschaft zukommen: Zukunftsforscher Morell Westermann aus Gommiswald.
Bild zVg

mit Morell Westermann
sprach Fabio Wyss

 

Krisen bringen Chancen. Dieses Bonmot war im letzten Jahr oft zu hören. Was bringt also das Coronavirus für die Zukunft? Der Zukunftsforscher Morell Westermann aus Gommiswald erklärt, welche Entwicklungen in der Arbeitswelt, der Bildung oder dem Verkehr auf die Menschheit zukommen.

Herr Westermann, müssen Sie als Zukunftsforscher nach dem Corona-Jahr 2020 nochmals über die Bücher?

MORELL WESTERMANN: Zukunftsforscher machen zum Glück keine Vorhersagen, sondern Trendanalysen und projizieren diese in die Zukunft. Daraus leiten wir zukünftige gesellschaftliche Entwicklungen und mögliche Geschäftsmodelle ab. Es ist nicht die Aufgabe der Zukunftsforscher, Pandemien vorherzusagen. Eine Pandemie ist eine plötzliche, eine disruptive Veränderung. Die vermehrte Mobilität und Globalisierung sind zwei Megatrends, die dieser Pandemie eine so grosse Dynamik verschaffen.

Eigentlich zielte die Frage auf etwas anderes ab: Corona hat viele Entwicklungen enorm beschleunigt, wie etwa bei der Digitalisierung. Die Szenarien der Zukunftsforschung dürften also rascher eintreten.

Ja und nein. Corona hat auch viele Industriezweige gedämpft und damit wirtschaftliche Entwicklungen verlangsamt. Aber der Schub der Digitalisierung – vor allem im Bildungssektor – ist enorm, war aber auch überfällig. Die breite Akzeptanz von Homeoffice, Videotelefonie bei der Arbeit und im Privaten – das wäre alles vor einem Jahr undenkbar gewesen. 2020 wurde das selbstverständlich. Aber darauf waren Schulen und Unternehmen oftmals schlecht vorbereitet.

Was wird dieser Digitalisierungsschub bringen?

Die Digitalisierung betrachteten wir oftmals vor allem als Herausforderung. In Asien ist das beispielsweise viel weniger der Fall. Dort wird sie als Chance wahrgenommen. Spannend ist nun, welche vernetzten Effekte sich bei uns mit der neuen Akzeptanz der Technologien ergeben. Zum Beispiel Online-Bildungsangebote für neue Zielgruppen und damit neue Berufschancen.

Diese Entwicklung fand schon während des Lockdown statt.

Absolut. Die Unternehmen waren gezwungen, die Chancen der Krise wahrzunehmen: Fitnesscenter mussten zwar schliessen, aber vermieten nun ihre Geräte für zu Hause. Mit Videotrainings erreichen sie nun Leute, die sonst Fitnesscenter meiden würden. Zum Teil halfen auch ganz einfache, pragmatische Lösungen. So etwa eine Gärtnerei in der Region: Diese hatte vor Corona keinen Webshop. Während des Lockdown musste sie aber «über Nacht» auf das Online-Geschäft umsatteln, um überleben zu können. Dafür nummerierte die Gärtnerei Gestecke, Pflanzen und Regale. Diese fotografierten sie und stellte die Fotos online. Per Mail konnte dann die entsprechende Nummer bestellt werden. Das sicherte das Überleben. Inzwischen gibt es natürlich einen ausgewachsenen Webshop, der wohl auch nach Corona nicht abgeschaltet wird.

In anderen Bereichen der Dienstleistungsbranche dürfte sich ein ähnliches Bild präsentieren.

Versicherungen, Banken und ganze Wirtschaftszweige haben Homeoffice nun akzeptiert. Die Angestellten werden das künftig vermehrt einfordern. Jene, die von zu Hause gut arbeiten konnten, bemerkten deutliche Vorteile: kein Stau beim Pendeln, weniger Ablenkung zu Hause. Darum werden flexible Arbeitszeiten- und -orte für Unternehmen immer wichtiger. Firmen werden sich in Zukunft mehr und mehr bei den Menschen bewerben müssen.

Wie meinen Sie das?

Die gesellschaftliche Wahrnehmung, die Innovationskraft und die Nachhaltigkeit eines Unternehmens werden immer wichtiger, damit es als Arbeitgeber attraktiv bleibt. Der moralische Wert und der Sinn einer Arbeit werden verstärkt in den Vordergrund rücken. Im Gegensatz dazu werden Karriere, Macht und Gehalt einen geringeren Stellenwert einnehmen. Dieser Trend ist schon heute bei der jüngeren Generation im Arbeitsmarkt feststellbar.

Sind die Grundbedürfnisse gestillt, fängt der Mensch an, sich selbst zu verwirklichen.

So ist es – wie bei der Bedürfnis-Pyramide von Maslow. Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Erde. Uns geht es mehrheitlich sehr gut. Darum wird die Selbstverwirklichung und Sinnhaftigkeit immer wichtiger. So wählen Menschen künftig nach ihren persönlichen Werten aus, was und wie sie arbeiten wollen. Es ist wie bei einem Verein: In erster Linie ist wichtig, was dieser Verein macht und wen ich dort treffe. Nur wenn die Werte dieses Vereins meinen Zielen entsprechen, trete ich diesem bei. Die Höhe des Jahresbeitrags oder der Ort des Vereinslokals ist dann weniger wichtig.

Ein Restaurant lässt sich aber nicht im Homeoffice führen und in der Industrie sind Handwerker weiterhin gefragt.

Dafür floriert der Versandhandel. In der Industrie sind Firmen mit manuellen Prozessen stärker von einem Shutdown betroffen als solche, die Roboter einsetzen können. Die neuen Möglichkeiten der Robotik führen dazu, dass zukünftig ganze Industrien auf Automatisierung setzen und damit eine höhere Wertschöpfung erzielen können. Corona beschleunigt diese Marktbereinigung lediglich.

Braucht es nicht gerade für hoch qualifizierte Arbeiten immer einen Menschen?

Generell stimmt das. Faszinierende Zukunftstechnologien entwickeln sich noch nicht von alleine (lacht). Aber auch in Bereichen wie Banken, Anwaltskanzleien, Versicherungen, sogar in der Medizin, die wir bisher als hoch qualifiziert betrachten, werden vor allem grosse Datenmengen analysiert. Bigdata-Kalkulationen und das Analysieren von Texten oder Bildern werden Maschinen in der Zukunft besser und schneller machen können, als wir Menschen.

 

«Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird noch sehr interessant.»

 

Werden dadurch mehr Menschen arbeitslos?

Es wird sicher zu einer Änderung des heutigen Systems kommen, das auf der Besteuerung von Arbeit oder Wertschöpfung basiert. Die Diskussion um ein bedingungsloses Grundeinkommen wird noch sehr interessant. Die Kurzarbeitsentschädigung während der Coronakrise ist schon eine Form eines Grundeinkommens. Menschen, die in Kurzarbeit waren, konnten neben allen Ängsten und Einschnitten auch positive Effekte feststellen: Die gewonnene Zeit entschleunigte, förderte die Kreativität und schuf plötzlich Zeit für Dinge, die einem wirklich Spass machen. Corona beschleunigt diese Entwicklung – bei den Menschen und in den Unternehmen.

Wie soll ein bedingungsloses Grundeinkommen finanziert werden?

Eine Idee ist die Finanztransaktionssteuer – wer mehr Geld bewegt, zahlt mehr. Eine weitere Möglichkeit, um das bedingungslose Grundeinkommen zu finanzieren, wäre die Besteuerung der automatisiert erschaffenen Wertschöpfung. Also zum Beispiel die Software: Mit einer Software erzielen Firmen schon heute gewaltige Margen. Die manuellen Arbeiten werden dabei ständig wegrationalisiert. Radikal weitergedacht bedeutet das, dass Software Geld verdient, ohne dass Menschen daran beteiligt sind. Warum aber sollten Softwareunternehmen praktisch ohne Mitarbeiter unendlich reich werden? Wofür?

Wo könnten künftig vermehrt Arbeitskräfte gebraucht werden?

Mal abgesehen von allen Bereichen mit digitalen Geschäftsmodellen, dürfte sich der Verkehr stark verändern. In den nächsten drei bis fünf Jahren werden die ersten Personendrohnen fliegen und damit eine neue Facette der Mobilität eröffnen. Der Markt der Lufttaxis ist stark in Bewegung. Dazu ist die Elektrifizierung der Luftfahrt im Aufwind. In der Schweiz gibt es einige mutige Beispiele von Start-up-Firmen in diesem Bereich.

Die Digitalisierung dürfte die Luftfahrt ohnehin verändern. Oder wird man für ein Geschäftsmeeting künftig noch in ein Flugzeug steigen?

Die Finanzabteilungen von Unternehmen werden dieses Jahr festgestellt haben, dass durch den Wegfall von Flug-spesen viel Geld eingespart werden konnte – aber auch Reisezeit und CO2-Emissionen. Die Luftfahrtindustrie wird sich wandeln. Die Elektrifizierung der Luftfahrt wird künftig zu kleineren Flugzeugen und kürzeren Distanzen zu kleineren Flugplätzen führen. Aber geflogen wird weiterhin – trotz des Trends der Videomeetings. Für Erstgespräche und das Kennenlernen eines Geschäftspartners wird der persönliche Austausch nach wie vor wichtig sein. Und Urlaubsreisen bleiben ebenfalls gefragt.

 

«Der moralische Wert und der Sinn einer Arbeit werden verstärkt in den Vordergrund rücken.»

 

Die Schweiz hat bezüglich Elektroflugzeuge schon eine Vorreiterrolle eingenommen. Starteten Sie darum in Schänis zum Weltrekordflug?

Genau, die Schweiz hat dieses Jahr als weltweit erstes Land ein Elektroflugzeug zugelassen. Deswegen konnten wir mit dem weltweit ersten zertifizierten Serien-Flugzeug die Weltrekorde aufstellen (die «Linth-Zeitung» berichtete mehrfach, Anm. d. R). Wir können gerade in diesem Bereich stolz sein auf unser Land! Die Zertifizierung und Zulassung von Luftfahrzeugen ist ein langjähriger und aufwendiger Prozess; die Luftfahrtbehörde der Schweiz ist mutig vorangegangen. Mit dem richtigen Umfeld für Personendrohnen könnte eine ganze neue Luftfahrtindustrie hier aufgebaut werden. Der Startschuss ist schon erfolgt: So gibt es in der Schweiz bereits weltweit die ersten Flugrouten zum Betrieb von Transportdrohnen über bewohntem Gebiet. In der Schweiz transportieren Drohnen schon heute täglich Blutproben zwischen Spitälern in Zürich und Lugano hin und her.

Auch der Strassenverkehr dürfte sich durch vermehrtes Homeoffice verändern. Sind die Stosszeiten und Staus, wie man sie kennt, in absehbarer Zeit vorüber?

Langfristig ja, es wird weniger Pendler geben. Ebenso unterstützen verschiedene Trends diese Entwicklung. Das kann gerade für Firmen in unserer Region eine Chance sein. Sie liegen nahe an Zürich, aber nicht im Zentrum. Es wird künftig keine Nachteile mehr geben, wenn man in der Peripherie lebt. Der Verkehr wird flüssiger und arbeiten kann man unabhängig vom Ort, in autonomen Fahrzeugen sogar während der Fahrt. In die Stadt geht man dann zum Shopping oder für die Kultur. Aber weniger zum Wohnen und Arbeiten.

Gleichwohl wird der Ausbau von Strassen stark vorangetrieben. Etwa auch das A15-Umfahrungsprojekt vor Ihrer eigenen Haustüre am Ricken. Bis dieses fertiggestellt wäre, dauert es rund 15 Jahre. Braucht es dann noch so eine Strasse?

Wir werden auch dann weiterhin in Autos fahren. Nur fahren die dann von alleine. Wir werden nicht mehr um Punkt acht Uhr im Büro einstempeln, um Mails zu beantworten. Aber die Strasse als Transportweg bleibt sehr effizient.

Das neue Jahr hat soeben begonnen. Wie lange dauert es, bis wir nicht mehr über dieses Virus sprechen?

Bis wir flächendeckend geimpft sind und die kritischen Krankheitsverläufe im Griff haben. Dann erst haben wir diese Pandemie hinter uns. Wir werden uns aber auch daran erinnern können, welche positiven Effekte die Digitalisierung und die Entschleunigung für jeden einzelnen brachten. Ich bin überzeugt davon, dass der eine oder andere seine persönlichen Werte in dieser Zeit neu justiert hat. Weltweit hat die Menschheit in dieser Zeit einmal mehr gelernt, dass globale Probleme auch nur gemeinsam zu lösen sind. Ich bin zuversichtlich, dass wir diese Erkenntnis für alle zukünftigen Herausforderungen anwenden werden.

 

Zur Person

Der Zukunftsforscher Morell Westermann analysiert die Megatrends, die auf unsere Gesellschaft zukommen. Die Fachgebiete des Ingenieurs und Piloten sind Aviatik, Elektromobilität, Digitalisierung sowie die Wege zu einer CO2-neutralen Gesellschaft. Der 43-Jährige ist regelmässig auf Events und Kongressen als Redner, Moderator und als Experte beim Schweizer Fernsehen zu sehen. Der gebürtige Deutsche wohnt in Gommiswald. Letzten Sommer stellte er fünf Weltrekorde im Elektrofliegen auf. In mehreren Etappen flogen er und sein Team von Schänis bis auf die Nordseeinsel Norderney. (wyf)

 

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