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Einzelkämpfer am Scheideweg

Mountainbike-Profi Marcel Guerrini aus Neuhaus ist so gut in Form, wie vielleicht noch nie. Dennoch steht die Fortsetzung seiner Karriere auf der Kippe. Seit diesem Jahr muss er ohne Team auskommen.

Bernhard
Camenisch
25.07.20 - 01:17 Uhr
Sport

Nach Monaten der Warterei haben endlich auch die Mountainbiker loslegen können. Der Start in die verkürzte Rennsaison erfolgte am letzten Sonntag mit dem Swiss Bike Cup in Leukerbad. «Es war schön, wieder mal ein Rennen zu fahren, und speziell auch wegen des Schutzkonzepts. Die meisten Fahrer waren wahrscheinlich noch nervöser als sonst», sagt Marcel Guerrini.

Wie alle hatte auch er im Vorfeld nicht wirklich abschätzen können, wo er im Vergleich mit der Konkurrenz steht. Nun kann der 25-Jährige konstatieren, dass ihm der Auftakt gelungen ist. Denn die nackten Zahlen – Rang 16 mit knapp 5 Minuten Rückstand auf Sieger Nino Schurter – dürfen in diesem international top besetzten Rennen nicht als Massstab dienen. Mit Startposition 50 hatte Guerrini ein gewaltiges Defizit. Im Verkehr handelte er sich nur schon zwei Minuten seines Rückstands in den ersten zwei von acht Runden ein. Letztlich zähle zwar das Resultat, sagt Guerrini, «aber das Gefühl passt. Ich überholte mit Zug und fuhr Top-10-Rundenzeiten.»

Sogar das eigene Bike kostet

Auffällig war beim Blick in die Resultatliste noch etwas anderes: War bei den meisten Fahrern hinter dem Namen das Team aufgeführt, stand in der Zeile von Guerrini «Guerrini Racing». Dies hat einen ernsten Hintergrund: «Ich bin privat unterwegs. Nach dem letzten Jahr habe ich kein Team mehr gefunden», erklärt Guerrini. Er weiss deshalb schon jetzt: «In dieser Saison lege ich finanziell drauf.»

Mit zwei, drei Sponsoren hat Guerrini eine Zusammenarbeit finden können. So wird er von einem australischen Ausrüster mit Mountainbike-Kleidung ausgestattet. Aber nur schon an seinem Arbeitsgerät – das Bike bezieht er von einem US-Hersteller – muss er sich finanziell beteiligen. Für Reise- und Hotelkosten muss Guerrini sogar gänzlich selber aufkommen. Im Weltcup oder an internationalen Titelkämpfen könnte der Neuhauser zumindest vor Ort auf den Support durch das Nationalteam zählen. An kleineren Rennen wie am letzten Sonntag in Leukerbad muss er aber sein eigener Mechaniker sein. Und auch die Betreuung muss er selbst organisieren. Die Trinkflasche während des Rennens im Wallis wurde ihm von seiner Freundin gereicht.

«Den meisten Fahrern geht es nicht gut»

In der Saison 2016 war Guerrini noch gefeierter Shooting-Star, wurde Team-Europameister, U23-Schweizer-Meister und Dritter im U23-Gesamtweltcup. Nun ist er nach zwei schwächeren Saisons innert weniger Jahre ein prominentes Beispiel dafür geworden, wie hart der Überlebenskampf in der Cross-Country-Szene ist. «Die Velobranche boomt. Aber den meisten Teams und Fahrern in unserer Sportart geht es nicht gut», sagt er. Auch Lukas Flückiger, 2012 Vize-Weltmeister, muss sich auf eigene Faust durchschlagen. Mit dem Oberaargauer und dessen jüngerem Bruder Mathias Flückiger unternimmt Guerrini häufig gemeinsame Trainingsfahrten.

«Ewig kann ich das so nicht machen, irgendwann geht das Geld aus.»
Marcel Guerrini, Mountanibike-Profi

Für ihn ist klar, dass er vor wegweisenden Monaten steht. Auch wenn er im September erst 26-jährig wird, ist er an einem Punkt angelangt, an dem er ein frühes Karriereende nicht ausschliessen kann: «Ewig kann ich das so nicht machen», stellt er klar, «irgendwann geht das Geld aus.» Mit seinem KV-Abschluss hat er sich schon mehrmals um eine Teilzeitstelle bemüht. Er muss aber immer wieder feststellen, dass die Flexibilität, die er als Spitzensportler benötigt, für potenzielle Arbeitgeber ein grosses Hindernis ist.

Dank Corona aufgeholt

Guerrinis gegenwärtige Situation ist umso paradoxer, als er im Training auf so gute Werte – massgebend sind die Herz- und insbesondere die Wattfrequenz – wie noch nie kommt. Zumindest in einem Punkt konnte der Neuhauser von der weltweiten Situation in den vergangenen Monaten profitieren: «Corona gab mir die Chance, nochmals zurückzukommen. Während des Lockdowns konnte ich aufholen, was ich zuvor verpasst hatte.» Denn nach einem Trainingssturz im November waren die Knieprobleme, die Guerrini im vergangenen Jahr zum deutlich verspäteten Saisoneinstieg gezwungen hatten, wieder zurückgekehrt.

Für Guerrini wurde dies zu einer zusätzlichen mentalen Belastung. Gewohntes Velo- und Bike-Training war im Winter nicht möglich. Stattdessen war er oft auf Tourenski unterwegs – zusammen mit seinem Coach und früheren Teamkollegen Florian Vogel, der im letzten Herbst seine Karriere beendete. Richtig aufs Mountainbike kehrte Guerrini erst im Februar im Trainingslager in Südafrika zurück. Und dann kam Corona.

Kein Handicap an der SM

Dass die Pandemie den Saisonkalender der Spitzenmountainbiker massiv dezimiert hat, hilft Guerrini zwar, Kosten zu sparen, die Umstände werden aber auch zum Nachteil. Ohne Rennen könne er sich nicht zeigen, weiss der WM-19. und EM-12. von 2017. Und gut in Szene setzen muss er sich, wenn er sich fürs nächste Jahr bei Teams ins Gespräch bringen will. Er muss deshalb ab sofort die sich spärlich bietenden Chancen nutzen.

Eine solche bekommt er am Sonntag in Gränichen an den Schweizer Meisterschaften. Guerrini sagt mit Überzeugung: «Mein Ziel ist ein Platz in den Top 5.» Die Zuversicht, dass ihm dies gelingt, schöpft er nicht nur aus seiner körperlichen Verfassung, sondern auch daraus, dass er von Startposition 16 loslegen kann: «Diesmal gehe ich nicht mit einem Handicap ins Rennen.»

 

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