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«Jene, die zuvorderst an der Front arbeiten, kriegen den ganzen Hass ab»

Karen Peier-Huser hat unlängst noch im Kanton die Coronastrategie mitgeprägt. Nun erklärt sie den St. Galler Weg, spricht über das Sterben, Fake-News und wie die Spitäler entlastet werden können.

Fabio
Wyss
30.12.21 - 18:00 Uhr
Politik
Bricht Tabus: Die Eschenbacher Gemeinderätin Karen Peier hat das St. Galler Kantonsarztamt verlassen und bringt brisante Themen bezüglich der Pandemie zur Sprache.
Bricht Tabus: Die Eschenbacher Gemeinderätin Karen Peier hat das St. Galler Kantonsarztamt verlassen und bringt brisante Themen bezüglich der Pandemie zur Sprache.
Bild Markus Timo Rüegg

Nach knapp vier Jahren als stellvertretende Kantonsärztin hat Karen Peier-Ruser (46) diesen Herbst in die Privatwirtschaft gewechselt. Seit November ist sie beim Gesundheitsunternehmen Medbase als Regionenleiterin tätig. Sie verantwortet in der Deutschschweiz acht ambulante Gesundheitszentren, sogenannte Medical Center. Im Interview blickt sie zurück auf eine intensive Zeit beim Kanton.

Karen Peier, Sie haben letzten Herbst das St. Galler Kantonsarztamt verlassen. Weshalb?

KAREN PEIER-RUSER:  Die Stelle hat mir sehr gut gefallen. Vor allem die interprofessionelle Arbeit im Krisenstab, welche die Pandemie mit sich brachte. Ich wusste aber, wenn sich dereinst alles mit Covid-19 wieder normalisieren wird, würden mir die Herausforderungen fehlen.

Soweit ist es aber noch nicht.

Dennoch muss man sich genug früh umschauen, wenn man eine neue Stelle möchte. Dabei habe ich diese ganz interessante Stelle bei Medbase ausgeschrieben gesehen und habe sie tatsächlich erhalten. Das ist für mich eine neue Herausforderung, bei der ich mir neues Wissen aneignen kann. 

Viel Neues brachte auch die Pandemie mit sich. Zwei Jahre zuvor sind Sie zum Kantonsarztamt gestossen. Wie hat sich der Beruf durch Covid-19 verändert?

Wir haben schon im Januar 2020, also vor Ausbruch der Pandemie in der Schweiz, die internationale Lage beobachtet. Im März trat der Tagesjob dann in den Hintergrund. Es ging nur noch um die Pandemie und die dazu nötigen Notfallmassnahmen. Das richtig Spannende im Job hat dann begonnen.

Von aussen wirkt der Kanton St. Gallen zögerlich mit Massnahmen. Wie hoch ist der Anteil des Kantonsarztamtes bei dieser Strategie?

Wir beraten die Regierung. Für uns war es immer wichtig, Massnahmen umzusetzen, die lange ertragbar sind. Dass diese Pandemie keine kurze Sache wird, war für uns immer klar.

Sondern?

Wir rechneten mit zwei vielleicht bis zu vier Jahren, in denen es Massnahmen braucht. Entsprechend braucht es Massnahmen, die lange von der Bevölkerung mitgetragen werden. Es war uns wichtig, Perspektiven aufzuzeigen und die psychische Gesundheit zu berücksichtigen. Wir wollten alle Aspekte beleuchten. Wie geht es beispielsweise den Kindern und Jugendlichen? Sie müssen viele Massnahmen mitmachen, haben aber nur ein kleines Risiko für Longcovid.

Also ist «zögerlicher Kurs» der falsche Begriff?

Das «integrierte Denken» im Kanton wirkt vielleicht von aussen wie ein Zögern. Wir wollten aber vor allem realistisch schauen, dass die Massnahmen ertragbar sind. Entsprechend haben wir viele gute Rückmeldungen bekommen.

Nur positiv waren sie aber nicht. Der St. Galler Bildungsdirektor Stefan Kölliker geriet im «Club« von SRF stark in die Kritik. Schliesslich machte er das Kantonsarztamt verantwortlich für die Strategie der Regierung. Wie sehen Sie das?

(schmunzelt) Ich habe mit ihm Kontakt aufgenommen und nachgefragt, was er genau damit meinte. Wir haben eng zusammengearbeitet und gemeinsam Entscheide getroffen, da ich für die Schulen mit zuständig war. Diese Zusammenarbeit war sehr angenehm und natürlich hörten die Verantwortlichen der Schule auf unser Amt. Sie wiederum haben aufgezeigt, welche Massnahmen für Schulen umsetzbar sind. Diese Zusammenarbeit mit anderen Departementen habe ich sehr geschätzt.

Ein Teil Ihrer Arbeit war die Leitung des Contact Tracing. Können Sie schildern, was es bedeutet, auf einmal ein solch personalintensives System aufzubauen?

Der Zivilschutz hat uns im Aufbau des Contact Tracing stark unterstützt. Eine grosse Herausforderung war, geeignete Personen in genügend grosser Anzahl zu finden, welche die Tracingarbeit übernehmen können und sehr flexibel sind. Zudem braucht es eine dicke Haut, so einen Job zu machen.

Inwiefern?

Vorab ist zu erwähnen, dass viele sehr dankbar sind, wenn man sie kontaktiert. Contact Tracer können dabei teils die Angst etwas nehmen. Natürlich werden aber viele wütend, wenn sie erfahren, dass sie in Quarantäne müssen. Oder finden die Massnahmen ohnehin übertrieben. Da wird auch mal am Telefon mit der Contact Tracerin geschimpft, obschon sie nichts dafür kann, was im Hintergrund beschlossen wird. Jene, die zuvorderst an der Front arbeiten, kriegen den ganzen Hass ab. 

Telefonate gehören aber der Vergangenheit an?

Wir wussten, dass uns das Contact Tracing über Jahre beschäftigen wird und haben ein Computersystem programmieren lassen, das unsere Bedürfnisse erfüllt. Gerade Jüngere müssen nicht am Telefon eng betreut werden, da reicht eine Kontaktaufnahme per E-Mail oder SMS. So ist das Contact Tracing auch bei den aktuellen Zahlen zu bewältigen.

Spürt man die aktuelle Coronamüdigkeit der Bevölkerung auch im Contact Tracing?

Durchaus. Mit der Zeit haben die Kontaktangaben ziemlich stark abgenommen. Immer mehr Infizierte gaben an, dass sie gar keine Kontakte hatten. Entsprechend nimmt die Wirksamkeit des Contact Tracings ab. Das ist schade, aber wir sind ein freies Land. Man kann die Leute nicht ständig überwachen und zwingen, zu Hause zu bleiben.

Mit der Konsequenz, dass sich immer mehr Leute anstecken. Wie schätzen Sie die langfristigen Auswirkungen der Covid-19-Pandemie ein?

Das Virus bleibt und wird uns begleiten. Dazu werden neue Viren kommen. Wir müssen lernen, damit zu leben. Und so schlimm jeder Todesfall ist: Wir müssen lernen, mit Sterben und Tod umzugehen. Das ist ein grosses Tabuthema in unserer Gesellschaft geworden, da unsere Medizin ziemlich viel kann. Die covidbedingten Todesfälle werden jedoch zu wenig ins Verhältnis gesetzt mit beispielsweise den Tausenden Hungertoten – darunter viele Kinder–, die täglich sterben. Ich will die Todesfälle nicht herunterspielen, aber bei uns sterben vornehmlich alte Menschen an Covid.

Es ist vor allem die drohende Überlastung des Gesundheitswesens, welche vielen Leuten Angst bereitet.

Nein. Es ist nicht die Überlastung, sondern die Triage, welche Menschen Angst macht. Die Triage gibt es aber nicht erst seit der Covid-19-Pandemie. Auch bei einer normalen Belastung des Gesundheitswesens muss eine Art Triage gemacht werden. Je nach Alter und Diagnose des Patienten ist eine Behandlung auf der IPS (Intensivpflegestation Anm. d. Red.) nicht mehr sinnvoll, da die Überlebenschancen zu gering sind oder danach keine Lebensqualität mehr vorhanden ist.

Die aktuelle Situation ist aber nicht vergleichbar.

In Bezug auf Covid-19 muss gesagt werden, dass bei der ersten Welle noch viel mehr IPS-Betten zur Verfügung standen. Das Personal war hochmotiviert und im Vergleich zu jetzt noch verfügbar. So lange durchzuhalten ist aber nur schwer möglich. Erst recht nicht, wenn man merkt, dass die Bevölkerung notwendige Massnahmen nicht mitmacht. Rein mathematisch kommt es darum mit dem ermüdeten Pflegepersonal viel schneller zu einer Überlastung.

Trotz Impfung.

Über 90 Prozent der Patienten auf der IPS sind ungeimpft. Diese Zahl beweist vor allem, dass die Impfung wirklich gegen schwere Symptome schützt. Es ist nachvollziehbar, dass Ärzte und das Pflegepersonal nicht mehr einen Sondereffort leisten können oder wollen, wenn sie vor allem Patienten behandeln, die diesen Schutz ablehnen. 

Braucht es demnach ein Impfobligatorium?

Eine Impfung ist ein medizinischer Eingriff. Deshalb müssen die Leute selber eine Nutzen-Risiko-Abwägung treffen können. Zwar sind Nebenwirkungen einer Impfung selten und im Vergleich zur Krankheit nicht so zahlreich und schwer. Aber Nebenwirkungen können eintreffen. Bei einem Maskenobligatorium stellt sich diese Frage nicht, da eine Maske schützt, aber praktisch keine gesundheitlichen Folgen für den Träger oder die Trägerin haben kann.

Wie kann denn unsere Gesellschaft an einem Obligatorium vorbeikommen, ohne das Gesundheitssystem ständig zu überlasten?

Wir als Gesellschaft müssen akzeptieren, dass sich Leute nicht impfen lassen wollen. Wird der Druck erhöht, werden noch mehr Leute in die Kriminalität gedrängt und fälschen Zertifikate oder Ähnliches. Wenn der Entscheid gegen eine Impfung akzeptiert werden soll, müssen Ungeimpfte aber auch die Konsequenzen dieses Entscheids tragen. Zum Beispiel, indem Betten kontingentiert und sie dann möglicherweise keinen Platz auf der IPS haben werden. 

Also eine beschränkte Anzahl IPS-Betten für ungeimpfte Covid-Kranke?

Auch das ist ein Tabuthema. Aufgrund ethischer Überlegungen darf man das nicht machen. Aber auch da gilt es, die Covid-Patienten ins Verhältnis zu setzen. Sind sie wertvoller als alle anderen Patienten? Patienten, die nicht operiert werden können und darum länger leiden oder sterben müssen? Und das, damit Betten freigehalten werden können für Covid-Patienten? Das sind ethisch äusserst schwierige Fragen, und sie werden in der Öffentlichkeit zu wenig thematisiert.

Eine mildere Massnahme wäre das gezielte Ausfüllen von Patientenverfügungen. Der Kanton könnte nicht Geimpfte anschreiben mit der Bitte, die Patientenverfügung auszufüllen. Wie dies vor der zweiten Welle mit vulnerablen Personen in Heimen gemacht wurde.

Die Patientenverfügung sollten sowieso alle ausfüllen – unabhängig von Alter oder Impfstatus. Auch in jungem Alter kann zum Beispiel eine Hirnblutung auftreten. Eine Überlastung der IPS-Plätze kann diese Massnahme aber nicht verhindern. Hardliner bei Impffragen haben nun mal extreme Haltungen, glauben teilweise an nicht korrekte Fakten. Es gibt immer wieder sogenannte Wissenschaftler, die Dinge behaupten, die nicht wahr sind. Das wird von Leuten gerne als wissenschaftlich angesehen und nicht hinterfragt. Diese Leute sind festgefahren.

Da können auch Sie als Fachexpertin niemand von einer Impfung überzeugen?

Nein, da lohnt es sich nicht, die Energie zu investieren. Bei jenen, die selber nicht sicher sind, aber gerne und offen diskutieren, sieht es anders aus. Aufgrund der vielen Fehlinformationen existieren diverse Ängste bezüglich des Impfstoffs. Mit viel Aufklärungsarbeit konnte ich die eine oder andere Person zu einer Impfung bewegen.

Hat Sie generell die Impfskepsis im Kanton überrascht?

Mich hat eher überrascht, dass sich so viele impfen lassen. Ich halte die Impfquote eher für hoch.

Wie das?

Ich ging aufgrund der Erfahrungen von der Grippeimpfung davon aus, dass sich viel weniger Personen impfen lassen. Es ist schön, dass es anders gekommen ist. Die Quote dürfte aber noch höher sein.

Anders gekommen sind auch die mit der Impfung verbundenen Hoffnungen. Vor einem Jahr dachte man noch, im 2021 endet der pandemische Zustand. Nun sieht man zuhauf Impfdurchbrüche.

Das Ziel der Impfung ist, schwere Symptome zu verhindern. Obschon in der Zwischenzeit neue Virusvarianten dazugekommen sind, ist die Impfung diesbezüglich hochwirksam. Der Blick in die Intensivpflegestation beweist das. Zudem sind Geimpfte über eine kürzere Dauer ansteckend.

Sie kümmern sich nun in Ihrem neuen Job bei Medbase um andere Fragen. Sind Sie froh darüber?

Zum einen ja. Über eine so lange Dauer einer Pandemie zermürbt der Job im Kantonsarztamt. Andererseits wäre ich gerne bis am Ende dabeigeblieben. Denn die Zeit im Kantonsarztamt war sehr spannend. Die Fragestellungen, die mit der Pandemie aufgetaucht sind, waren neu, ich übte einen Beruf aus, den so davor im Kanton noch niemand machte. Dabei lernt man viel und macht natürlich auch Fehler.

Wie mühsam sind dabei Journalistenfragen?

Eigentlich nicht wirklich. Gewisse Kritik ist nachvollziehbar. Die Politik muss einen Mittelweg finden: Es gibt nicht nur gesundheits- oder wirtschaftspolitische Interessen. Die Argumente und Kritik von aussen sind hilfreich, um einen nachhaltigen Weg zu finden.

Um was für Fragestellungen müssen Sie sich in Ihrem neuen Job bei Medbase kümmern?

Die grösste Herausforderung wird sein, für die Standorte qualitativ gute Ärzte und Ärztinnen zu rekrutieren. Insbesondere, da im ambulanten Bereich neue Zulassungsbestimmungen gelten. Natürlich kommen aber auch praktische betriebswirtschaftliche Fragen dazu. Jeder Standort muss wirtschaftlich arbeiten und gleichzeitig eine qualitativ hochstehende Medizin anbieten.

Als Eschenbacher Gemeinderätin und als Präsidentin des Spitexvereins Eschen­bach-Schmerikon begleitet Sie das Thema Alter. Welche Herausforderungen stellen sich dort?

Im Moment suchen wir Pflegepersonal. Sowohl in der Spitex als auch im Pflegezentrum. Das immer grösser werdende Arbeitsaufkommen zu bewältigen, ist die grösste Schwierigkeit.

Und das wird wohl vorerst noch so bleiben.

Das ist anzunehmen. Der Job muss interessanter gemacht werden mit mehr Anreizen und besseren Weiterentwicklungsmöglichkeiten. Dabei braucht es auch neue Formen wie «Nurse Practitioner». Diese studierten Pflegefachpersonen können auch gewisse ärztliche Leistungen in der Grundversorgung übernehmen.

Wie wird sich das Aus vom Pflegezentrum Linthgebiet auf Eschenbach auswirken?

Langfristig nicht gross. Das Pflegezentrum wurde damals erstellt, als unsere Heime noch richtige Altersheime waren. Es kamen ältere Leute ins Heim, die nicht mehr zu Hause leben wollten, aber grundsätzlich wohlauf waren. Das hat sich gewandelt. Nun sind unsere Altersheime zu Pflegezentren geworden.

… und die Leute bleiben so lange wie möglich zu Hause.

… betreut durch die Spitex. In die Heime kommen immer ältere Personen, die Spezialpflege benötigen – zum Beispiel wegen schwerer Demenzerkrankungen. Früher oder später braucht es dafür eine regionale Lösung: ein Zentrum, das Spezialpflege anbietet.

Durch die Pandemie rückten solche Probleme im Gesundheitswesen in den Hintergrund. Verschwinden tun sie aber nicht. Was beschäftigt Sie diesbezüglich?

Viele Personen gingen aus Angst nicht mehr zum Arzt oder zur Ärztin. Wären sie früher gegangen, hätte beispielsweise ein Krebs früher diagnostiziert und behandelt werden können. In den nächsten ein oder zwei Jahren werden so wohl einige schwere Fälle auftauchen, bei denen der Krebs schon zu weit fortgeschritten ist. Dass solche Krankheiten nicht zu vernachlässigen sind, wurde während der Pandemie zu wenig thematisiert.

Bald beginnt das 2022. Was bereitet Ihnen dafür Hoffnung?

Ich hoffe, dass sich die Politik durchringen kann, das Coronavirus für endemisch zu erklären. Das heisst, das Virus gehört zu uns wie das Grippevirus. Vielleicht bedeutet das künftig, dass man im ÖV eine Maske tragen muss. Aber ich hoffe, dass wir sonst weitestgehend zur Normalität zurückkehren können.

Zur Person
«Herausforderungen und komplexe Angelegenheiten liebe ich», schreibt Karen Peier-Ruser auf ihrer Website. Da passt es, dass die Mutter zweier Teenager während einer Pandemie einen neuen Job antritt und das Kantonsarztamt verlässt, bevor dort  Normalität einkehrt. Die 46-jährige Eschenbacher Gemeinderätin (FDP) übernimmt eine Führungsaufgabe bei Medbase, ein Gesundheitsdienstleister, der zum Migros-Genossenschafts-Bund gehört. Überdies präsidiert sie den Spitex-Verein Eschenbach-Schmerikon. Peier ist verheiratet und wohnt in St. Gallenkappel. Sie verfügt über einen Doktortitel in Humanmedizin und einen Master in Public Health. (wyf)

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