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Aufrecht geht sie zum Schafott

Der «letzten Hexe» Anna Göldi wird im Schlosshof von Haldenstein der Prozess gemacht. Der historische Stoff hat es in sich. Doch die Laienschauspieler sind nicht allein gelassen.

Ruth
Spitzenpfeil
15.06.19 - 04:30 Uhr
Kultur
Aufrecht geht sie zum Schafott
Todesurteil: Gegner und Betreiber des Hexenprozesses beobachten, wie die kirchlichen Richter den Willen Anna Göldis brechen.
JÜRG OSCHWALD

Wer auf den Scheiterhaufen gewartet hatte, ist natürlich enttäuscht worden. Europas «letzte Hexe» wurde nicht verbrannt, wie immer noch viele meinen, sondern enthauptet – und zwar auf den Tag genau 237 Jahre vor der Premiere des ihr gewidmeten Stückes im Schlosshof von Haldenstein am Donnerstagabend. Das originale Richtschwert, mit dem Anna Göldi am 13. Juni 1782 in Glarus hingerichtet wurde, befindet sich heute im Henkersmuseum in Sissach, wie man in einer kleiner Ausstellung im Torbogen in Haldenstein nachlesen kann. Doch in der Aufführung brauchte das Henkerswerkzeug nicht einmal aufzublitzen. Das Schaudern über das grauenhafte Ende der verleumdeten Dienstmagd packte die Zuschauer auch ohne jenes Requisit.

Kleider machen Rollen

Es ist eine der Stärken dieser schnörkellosen Inszenierung: Mit einfachen dramaturgischen Mitteln wird grosse emotionale Wucht erzielt. Es ist schön zu beobachten, was kluge Personenführung aus Laienschauspielern hervorzuholen vermag. Die 13 Mitwirkenden werden durch zum Teil recht komplexe Charaktere und anspruchsvolle Texte gefordert, aber nicht überfordert. Es funktioniert, weil sie die Geschichte geradlinig erzählen und sich in ihrer Rolle einrichten dürfen. Nicht zu unterschätzen sind dabei die Kostüme. Dass die Regisseurin Annina Giovanoli den heute im Theater oft so verpönten Naturalismus nicht scheute und ihre Schauspieler in historische Kleider steckte, machte den Zugang für alle leichter. Ganz davon abgesehen – die liebevolle Ausstattung vor der Kulisse des Schlosshofe ergab zusammen mit professioneller Lichtregie ein ungemein stimmiges Bild. Die sehr feinfühlig eingeflochtene musikalische Begleitung durch Sidonia Caviezel und Markus Sievi tat ihr Übriges.

Wenn wir nur von der gelungenen Inszenierung sprechen, greift das allerdings zu kurz. Denn diese «Anna Göldi» ist eine «One-Woman-Show». Nicht, dass die von Manuela Livers berührend gespielte Hauptrolle so dominant wäre. Nein, es ist die Frau im Hintergrund. Giovanoli zog nicht nur bei der Produktion alle Fäden, machte die Kommunikation und führte Regie, sondern sie schrieb auch das Stück von A bis Z neu.

Es war also eine Uraufführung, die man in Haldenstein erleben durfte. Und weil es nun einmal ein Ereignis war, das tatsächlich passiert ist, muss sich die Macherin wohl oder übel mit einem messen lassen: der Realität.

Gefragt ist also die historische Wahrheit – oder zumindest Wahrhaftigkeit. Nun reicht einem Theaterstück natürlich nie die reine Abbildung des Geschehens, so wie Geschichtsschreibung immer Interpretation ist. Auch Giovanoli will erklären, das Schicksal der Anna Göldi erfühlbar, die Beweggründe ihrer Mitmenschen verständlich machen. Da wartet sie mit einigen Überraschungen auf.

Der Täter als Weichei

Vielleicht sind die von Giovanoli als reflektierende Erzählerinnen erfundenen Figuren der Schlüssel. So wie «Die Schuld» (Gabi Schumacher) und «Das Gewissen» (Anita Mark) ständig spielerisch miteinander ringen, sind auch sonst Gut und Böse nicht so einfach zu trennen. Mit Erleichterung stellt man fest, dass auch in den Tagen des Frauenstreiks, missgünstige und intrigante «Wiiber» auf die Bühne gebracht werden können. Während die Dienstherrin Elsbeth Tschudi (Lea Giovanoli) eher aus eigener Verletztheit die zur Rivalin gewordene Anna als Hexe diffamiert, betreibt die «ehrenwerte» Rosa Becker (Monika Curschellas) die Hetzjagd aus reiner Niedertracht. Mag sein, dass die Autorin im Bemühen um gehaltvolle Dialoge den Ton nicht immer historisch korrekt trifft – auch eine noch so aufgeklärte Jungfer hat 1782 kaum ein Wort wie «Trotzreaktion» in den Mund genommen. Aber so bleibt es spannend.

Am interessantesten ist die Zeichnung der Männerfiguren. Dr. Tschudi (Marc Oetiker), der eigentliche Anstifter des Hexenprozesses, erscheint als ein von seiner Frau in die Enge getriebenes Weichei. Und der brave Landweibel (Reto Giovanoli) sorgt gar dafür, dass Anna so zum Schafott schreitet, wie sie durchs Leben gegangen ist: aufrecht.

Weitere Aufführungen: Montag, 17. Juni, Dienstag, 18. Juni, Donnerstag, 20. Juni, Freitag, 21. Juni, und Samstag, 22. Juni, jeweils
20.30 Uhr. Neu zusätzlich auch am Mittwoch, 19. Juni, 20.30 Uhr. Einführung jeweils um 19.45 Uhr. Im Schlosshof Haldenstein.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen.

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