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Bündner gegen Hollywood

Ein berühmter Regisseur baut ein falsches Pontresina und entfacht eine Revolte.

Ruth
Spitzenpfeil
14.10.18 - 04:30 Uhr
Kultur
Unerfüllte Liebe: Der Schmachtfetzen war keines der  Meisterwerke des grossen Lubitschs und erzürnte zudem die Bündner Jugend.
Unerfüllte Liebe: Der Schmachtfetzen war keines der Meisterwerke des grossen Lubitschs und erzürnte zudem die Bündner Jugend.
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Dass ein Film zu einem Bündner Volksaufstand führte, gab es in der Geschichte des Kinos wohl nur einmal. Es geht um eine Engadiner Heldenfigur, Gian Marchet Colani, den «König der Bernina». Ein berühmter Hollywood-Regisseur hatte sich des Stoffes angenommen. So viel ist allgemein bekannt. Die Kantonsbibliothek besorgte sich schon vor einigen Jahren mehrere Versionen des 1928 entstandenen Spielfilms. Doch jetzt erst mit der Übernahme des Dossiers von Frischknecht, Schweizer und Kramer mit all deren Rechercheunterlagen kommt die ganze Geschichte in allen ihren erstaunlichen Windungen zutage.

Gamsjäger in Lackschuhen

Der heute fast vergessene Heimatroman «Der König der Bernina» des Ostschweizers Jacob Christoph Heer war Anfang des letzten Jahrhunderts ungemein erfolgreich, gehörte bis zum Zweiten Weltkrieg gar zu den 30 meistgelesenen deutschen Büchern. Kein Wunder, dass sich auch ein amerikanisches Filmstudio dafür interessierte und die Rechte für viel Geld von den Erben Heers abkaufte. Beauftragt mit der Verfilmung wurde der 1922 aus Berlin eingewanderte Ernst Lubitsch, welcher schon einige Kassenschlager in Hollywood produziert hatte. Dieser engagierte zwar für die weibliche Hauptrolle die Deutsche Camilla Horn, für die Dreharbeiten wollte er sich aber nicht nach Europa bemühen. «Eternal Love», wie der Streifen in den USA hiess, wurde Lubitschs letzter Stummfilm und bestimmt kein Meisterwerk. Nicht zu vergleichen ist der Schmachtfetzen mit seiner grandiosen «Ninotschka» oder dem bitterbösen «Sein oder Nichtsein» rund zehn Jahre später.

1929 wurde die Premiere in Zürich aber grossmundig angekündigt als «Der erste Schweizerfilm vom grössten Regisseur der Gegenwart mit den berühmtesten Schauspielern». Erwartungsvoll sassen am 15. November auch einige Engadiner Studenten im Kino – und waren entsetzt. Was ihnen da als Pontresina vorgesetzt wurde, war ein Tirolerdorf mit Aroser Bergkirchli, und die Berge sahen komplett anders aus als in ihrer Heimat. Was die Werbung verschwieg: Lubitsch hatte für den «König der Bernina» keinen Meter Film in der Schweiz belichtet. «Pontresina» hatte man im Studio in Los Angeles nachgebaut, die Gletscherszenen wurden in den kanadischen Rocky Mountains gedreht. Superstar John Barrymore versagte völlig als raubeiniger Jäger, blieb der Gesellschaftslöwe in Lackschuhen.

Aufführung gesprengt

Die Engadiner Studentenverbindung Ladinia beschloss daraufhin, dass dieses Machwerk, eine Verhöhnung ihrer Ehre als stolze Rätier, nicht länger gezeigt werden dürfe. In einer konzertierten Aktion sprengten sie die Aufführung einige Tage später, es gab Strassenproteste, Verkehrsstaus und Verhaftungen. Die Presse schlug sich schnell auf die Seite der entrüsteten Bergler. Leserbriefe rechtfertigten die Aktion der «vaterländischen akademischen Jugend». Die «unerhörte Verkitschung der einzigartigen Engadiner Bergwelt durch die amerikanische Unterhaltungsindustrie» wurde gegeisselt.

Ob dieses Protests knickte der Betreiber des Zürcher Kinos bald ein und stoppte den Film. Später versuchte man dann zwar noch Landschaftsaufnahmen des echten Berninamassivs einzubauen, doch auch diese Version lief nicht lange. Genauso wenig Erfolg hatte ein Remake, das 1957 vom Wiener Regisseur Alfred Lehner immerhin vor Ort gedreht wurde. Ein fremder «König der Bernina» wurde einfach nicht akzeptiert.

Ruth Spitzenpfeil ist Kulturredaktorin der «Südostschweiz» und betreut mit einem kleinen Pensum auch regionale Themen, die sich nicht selten um historische Bauten drehen. Die Wahl-St.-Moritzerin entschloss sich nach einer langen Karriere in der Zürcher Medienwelt 2017, ihr Tätigkeitsfeld ganz nach Graubünden zu verlegen.

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