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«Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos»

Obwohl der Kanton St. Gallen immer mehr Covid-19-Fälle zählt, versucht die Regierung Ruhe zu bewahren –
allen voran Gesundheitsdirektor Bruno Damann. Das Kantonsspital erhöht derweil die Zahl der Intensivplätze.

Fabio
Wyss
03.11.20 - 19:57 Uhr
Ereignisse
Kritik von links: Gesundheitsdirektor Bruno Damann (CVP) muss eine erste Rücktrittsforderung entgegennehmen.
Kritik von links: Gesundheitsdirektor Bruno Damann (CVP) muss eine erste Rücktrittsforderung entgegennehmen.
BILD FABIO WYSS

Die Covid-19-Fallzahlen gehen im Kanton St. Gallen hoch. Die Wogen ebenfalls. Grüne und Junge GLP verlangten unlängst eine Entschuldigung von Gesundheitsdirektor Bruno Damann.  Und die Juso sogar den Rücktritt. Grund war unter anderem Damanns Aussage in einer TVO-Sendung von letzter Woche: «Die Geschichtsschreibung wird zeigen, ob Corona schlimmer als eine Grippe ist.»

Kein Rücktritt, keine Entschuldigung

Trotz des Wirbels – an der gestrigen Medienkonferenz des Kantons zeigte sich Damann gewohnt ruhig. Im St. Galler Pfalzkeller begann er ohne Entschuldigung oder Rücktrittsverkündung, sondern mit den Worten: «Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos.»
Das wird an der Front bestätigt. Intensivmediziner Miodrag Filipovic sprach gestern vor den Medien von einer ruhigen, aber sehr angespannten Situation. Seit Anfang Woche reduzieren die Spitäler im Kanton die nicht dringenden Eingriffe. Das Kantonsspital St. Gallen baut auf nächste Woche seine Intensivstation aus. «Wir brauchen aber nicht nur Betten, sondern vor allem Personal», sagte Filipovic. Und warnte: Wenn der Patientenstrom so bleibe, müssten Operationen weiter reduziert werden. Der Leiter der Intensivstation richtete darum einen Appell an die Bevölkerung: «Verzichtet auf Downhill-Fahrten mit dem Mountainbike oder unnötige Autofahrten!»

Miodrag Filipovic, leitet die Intensivmedizin im Kantonsspital St. Gallen.
Miodrag Filipovic, leitet die Intensivmedizin im Kantonsspital St. Gallen.

Filipovic berichtete von einem breiten Spektrum an Covid-Patienten. Die jüngsten sind knapp 40 Jahre alt – ohne Vorerkrankung. Die meisten Patienten zwischen 70 und 90 Jahre alt. Auffallend ist laut Filipovic die lange Behandlungsdauer: «Oftmals müssen Patienten zwei Wochen oder länger auf der Intensivstation bleiben.»
Dass er dem Grippevergleich Damanns widersprach, überraschte unter diesen Umständen wenig: «Die Grippe ist auch eine gefährliche Krankheit. Wir stiessen deswegen aber nie an eine Kapazitätsgrenze – so wie jetzt», sagte Filipovic.

Viele – und lange – Telefonate

Kantonsärztin Danuta Zemp hofft deshalb, dass die getroffenen Massnahmen demnächst wirken. «Die nächsten Tage werden zeigen, ob wir uns einem Plateau annähern.» Dies sei auch für die Aufrechterhaltung des Contact Tracing wichtig. Zurzeit müssten die Contact Tracer täglich bis über 500 Positiv-Getestete kontaktieren. «Oftmals haben die Erkrankten viele Fragen, und die Telefonate dauern über eine Stunde», sagte Zemp.
Seit Montag hat sich die Arbeit für das Contact-Tracing-Team etwas reduziert. Im Kanton trat eine neue Quarantäneregelung in Kraft. Neu kontaktieren Positiv-Getestete selber ihr Umfeld. Nur Personen, die im gleichen Haushalt leben, müssen sich zehn Tage isolieren (Ausgabe vom Samstag).
Im Kantonsrat stösst dieses Vorgehen auf Kritik (siehe Box). Kantonsärztin Zemp verteidigte gestern diese Strategie des Kantons: «Die Gefahr einer Ansteckung ist vor allem bei Personen im gleichen Haushalt hoch.» Für enge Kontakte eines Positiv-Getesteten ausserhalb des Haushalts sei dies aber kein Freipass. Diesen wird weiterhin Homeoffice empfohlen. Davor mussten Tausende Personen gleichzeitig in Quarantäne. «Das hat die Aufrechterhaltung von Betrieben gefährdet», so Zemp.

Kritische Fragen zum Contact Tracing
Letzten Freitag sei bekannt gegeben worden, dass das St.  Galler Contact Tracing überlastet sei, stellte die SP-Fraktion in ihrem Vorstoss fest. Die Quarantänepflicht gelte seither nur noch für Personen im gleichen Haushalt wie die positiv getestete Person.
Diese Information sei am Freitag etwa auf Twitter zuerst von der Industrie- und Handelskammer (IHK) kommuniziert worden, bevor sie auch von der Regierung bekannt gegeben wurde. «Wie kommt es, dass die IHK zuerst über die Änderungen informieren konnte?», will nun die Fraktion wissen. Sie fragt weiter, ob die geänderte Praxis bei der Quarantäne noch mit den Vorgaben des Bundes vereinbar sei.

Weiter verlangt die SP Auskünfte darüber, seit wann das Contact Tracing nicht mehr richtig funktioniere und wie lang es im Schnitt gedauert habe, bis einer getesteten Person der Aktivierungscode für die Covid-App zugestellt worden sei.
Fragen zur Leistungsfähigkeit der Nachverfolgung der Kontakte stellt auch die SVP-Fraktion. Sie reichte ihren Vorstoss mit dem Titel «Contact Tracing Center überfordert – hat das Sicherheits- und Justizdepartement die Lage unterschätzt» letzte Woche ein, kurz bevor die Anpassungen beim Tracing bekannt wurden.
Rückmeldungen aus der Bevölkerungen zeigten, dass das Tracing Center den Anforderungen nicht gewachsen sei, so die SVP. «Die Information an betroffene Bürgerinnen und Bürger erfolgt offenbar viel zu spät.» Es seien Fälle bekannt, bei denen Betroffene erst neun Tage nach dem Kontakt mit einer infizierten Person informiert wurden, sodass gerade noch zwei Quarantäne-Tage verblieben seien.
Die SVP-Fraktion will nun wissen, ob es zutreffe, dass das Tracing Center aktuell die Rückmeldungen an Betroffene nicht zeitnah ausführen könne. Und wie dort die Schnittstellen zwischen dem Sicherheits- und Justizdepartement und dem Gesundheitsdepartement geregelt seien. (sda)

Die Maske, «das kleinere Übel»

Unter den Quarantäneregelungen litten auch die Schulen. Bildungsdirektor Stefan Kölliker gab an, dass die Quarantänefälle unter Lehrkräften «massiv zugenommen» hätten. St. Gallen habe dringend handeln müssen. Darum müssen jetzt die Oberstufenschüler Atemschutzmasken tragen. Das erste Fazit Köllikers fällt positiv aus: «Wir haben keine Meldung über grössere Probleme wegen der neuen Regelung.»
Dass St. Gallen mit der Maskenpflicht weitergeht als der Bund, stritt Kölliker ab: «Die Kantone sind zuständig für Volksschulen auf der Sekundarstufe I – und nicht der Bund. Darum ist das keine Verschärfung.»
Masken sind für den SVP-Politiker das kleinere Übel als Fernunterricht. Dieser sei asozial: «Fernunterricht belastet insbesondere schwächere Schüler, die Jungen und die Familien», sagte Kölliker. Er ist bestrebt, die geltenden Massnahmen möglichst rasch wieder zu lockern. «Ich bin ganz klar dagegen, dass die jetzigen Regeln bis im März gelten – wie das die Taskforce des Bundes vorgeschlagen hat.»

Hoffnung für Lager lebt noch

Frühestens Ende November könnten laut Kölliker erste Lockerungen angedacht werden. «Dann wird die Situation neu bewertet.» Bis dann will die Regierung auch Klarheit schaffen, was für Schullager gelten soll.
«Bis Weihnachten sind sowieso keine Lager geplant. Deswegen haben wir das offengelassen», erklärte Kölliker. Eine klassische Lagersaison folgt aber schon bald danach. Im Januar und Februar führen etwa diverse Schulen im Linthgebiet ihre Wintersportlager durch. Kölliker liess durchblicken, dass er diese nicht verfrüht absagen will: «Die Lager sind sehr wichtig für den Klassenverband.»
Allerdings dürfte etwa in Rapperswil-Jona Zurückhaltung herrschen bei der Durchführung von Lagern. Erst vor einem Monat mussten Dutzende Kinder deswegen in Quarantäne.

Regierung will Wirtschaft noch mehr unter die Arme greifen
Die Zeit drängt. Für Schausteller, Reisebüros oder die Gastronomie. Wirtschaftlich leiden sie unter den Massnahmen gegen das Coronavirus mehr als andere Branchen. Während noch unklar ist, wie sich die zweite Welle im Detail auswirkt, erarbeitet die St. Galler Regierung bereits Unterstützungsinstrumente: «Wir wollen ganz zielgerichtet auf Branchen eingehen, die Einbussen erlitten haben», sagte Volkswirtschaftsdirektor Beat Tinner (FDP) gestern an einer Medienkonferenz in St. Gallen.
Die Details werden derzeit erarbeitet. Klar ist: Der Bund beteiligt sich nur an finanzieller Unterstützung für Firmen, wenn der Kanton die Hälfte selber stemmt. Bis zu 11 Millionen Franken ist die St. Galler Regierung bereit, dafür aufzuwenden. «So könnten rund 22 Millionen Franken zur Verfügung gestellt werden», sagte Tinner. Darunter gehören rückzahlbare Kredite und A-fond-perdu-Beiträge – also Beiträge ohne Rückzahlungspflicht. Gemäss Bund könnte die Härtefallregelung bereits im Dezember in Kraft treten. Der Kantonsrat wird darüber noch befinden. (wyf)

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