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Die lange Reise nach New Glarus

Matthias Dürst aus Diesbach ist einer der Glarner Auswanderer, die New Glarus gegründet haben. In seinem Tagebuch von 1845 berichtet er von der gefahrvollen Reise über den Atlantik und durch die USA nach Wisconsin im mittleren Westen.

Südostschweiz
17.12.18 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
66 Jahre nach der Gründung: Um 1911 präsentiert sich die heutige 2nd Street wie in einem Western-Film.
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NEW GLARUS HISTAORICAL SOCIETY

von Philipp Straub

Die Not in der Heimat ist gross, welche 1845 eine Gruppe von letztlich 193 Glarnern und Glarnerinnen dazu führt, ins ferne Amerika auszuwandern. Matthias Dürst aus Diesbach ist einer von ihnen. Und er schreibt auf der Reise ein Auswanderungstagebuch. Um auf Probleme hinzuweisen, die man bei zukünftigen Auswanderungen vermeiden könnte. Die Glarner werden es aber nie zu lesen bekommen. Das Original liegt heute noch in der Universitätsbibliothek in Madison, der Hauptstadt des US-Bundesstaats Wisconsin, in dem auch New Glarus liegt.

«1845, den 15. Aprill, habe ich von Freunden und Nachbarn Abschied genohmen und ging auf Mitlödy; war dort im Rössly über Nacht. Am Morgen des 16. nahm ich begleitet von meinen lieben Bruder Johann Balthasar, den Weg unter die Füsse nach der Biäsche und erwartete dort meine Liebe Familie. Unser Comité langte auch an, unsere Sache glaubten wir in der besten Ordnung, aber, Himmel, wie hatten wir uns getäuscht!»

Reise ohne Kunde

Eigentlich sollte die Gruppe erst abreisen, wenn sie Bericht hätte von den vorausgereisten Kundschaftern. Doch den Auswanderungswilligen kann es nicht schnell genug gehen. Sie üben Druck auf das Comité aus, so zumindest lässt es der Hauptbericht des Auswanderungsvereins vermuten: «Der Andrang zu baldiger Abreise war zu gross, um nicht Gefahr zu laufen, die Zügel zu verlieren, die man behufs Organisierung der Auswanderung ergriffen hatte.»

Man beschliesst also, bereits den 16. April 1845 als Tag der Abreise festzulegen, überhastet und ohne etwas über den Verbleib der Experten zu wissen. Das Auswanderungscomité hat vorsorglich einen Transport für 140 Personen organisiert. Doch am Abfahrtsort in die Biäsche am Walensee finden sich schliesslich 193 Auswanderungswillige ein.

Darunter auch einige, die für die Reisekosten gar nicht aufkommen können, etwa ein Hilarius Ackermann vom Kerenzerberg. Der Hauptbericht des Comités schildert: «Kniend und unter einem Strom von Thränen unterstützen Frau und Kindes des Mannes Flehen. – Wer hätte da kalt bleiben und die Bittenden abweisen können? Das Comité konnte es nicht und gab dem Ackermann eine Beisteuer von 65 Gulden.»

Eine lange Reise beginnt

Glücklich können sich auch die übrigen Auswanderer schätzen, dass zufällig ein Schiff aus Walenstadt kommt und die restlichen Auswanderer aufnehmen kann. Die letzten Auswanderer verabschieden sich endgültig von ihren Liebsten und schiffen sich mit ihrem spärlichen Hab und Gut ein. Die Reise kann beginnen.

Auch Matthias Dürst findet mit seiner Familie einen Platz auf den Schiffen. Mit den Problemen beginnt es dann auch gleich. Auf der ersten Tagebuchseite berichtet er:

«Noch eh wir in Rapperschweil ankamen, fragten wir unseren Schiffskapitän Felder, wo wir Logieren müssen. Er gab uns zur Antwort, das sey unsere Sache, er habe uns nur zu führen, aber nicht zu speisen. Da gab es freylich Tumult.»

Dass der Reisevertrag nur den Transport beinhaltet, steht deutlich im Hauptbericht des Auswanderungsvereins. Aber die Auswanderer selbst sind wohl nicht gut genug informiert worden. Gut möglich, dass dieses Detail im überhasteten Aufbruch untergegangen ist. Gerade erst in Rapperswil angekommen, sehen sich die Auswanderer jedenfalls bereits in finanziellen Nöten. Sie lassen Dürst einen Brief an den Gemeinderat über ihre missliche Lage schreiben.

Am nächsten Tag in Zürich treffen die Auswanderer schon auf weitere Probleme: Der Schiffstransport von Zürich nach Basel ist nicht für 193 Personen vereinbart worden. Der Schiffsmeister muss zusätzliche Pferde und Wagen anmieten, was natürlich mit Kosten verbunden ist. Glücklicherweise hält sich gerade der Glarner Landammann Blumer in Zürich auf und beteiligt sich an den Mehrkosten.

Geldnot allenthalben

Von Basel bis ins niederländische Nieuwediep findet die Schiffsreise ohne grössere Zwischenfälle statt. Am 2. Mai dort angekommen, müssen die Auswanderer aber bis zum 13. Mai warten, bis ihr Schiff Anker lichtet nach Amerika.

Der Aufenthalt bringt die Auswanderer in neue Not, weil ihnen das Geld fehlt, sich mit den überteuerten Lebensmitteln einzudecken. Die Stimmung gegenüber dem Auswanderungsverein wird offenbar noch schlechter, wie man aus Dürsts Tagebuch lesen kann:

«Sollte wieder ein zweiter Transport aus unserm Tagwen oder ganzen Land verreisen wollen, so überlässt dem Ratsherr Streif die Wahl der Führer nicht mehr, dass er dem Comité solche Männer wusste einzuschwatzen, die so dumm wie er sind, und nur aus Gunst.»

Auch der Gemeinderath bekommt im Tagebuch sein Fett weg:

«Herliche Einrichtung! Aber wer wird sich noch wundern, wenn man bedenkt, was für elende erbärmliche Kerls in unserem Gemeindrath sizen, die nicht einmal das A.B.C. kennen und die bessern kaum ihren Nahmen recht schreiben, geschweige denn etwas vernünftiges zu Tage fördern könen.»

Seekrankheit und Zwieback

Am 13. Mai verlässt der Dreimaster endlich das europäische Festland und segelt Richtung Amerika. Das typische Zwischendeck dieser Schiffe ist gerade mal 1,75 Meter hoch und der Mittelgang 1,5 Meter breit. Links und rechts befinden sich enge zweistöckige Verschläge.

Bei schlechtem Wetter müssen die Luken geschlossen werden, und alle Passagiere zwängen sich ins Zwischendeck. Diese Enge erhöht die Gefahr von ansteckenden Krankheiten. Arzneien, geschweige denn Ärzte, sind höchst selten an Bord verfügbar. Auf jeder vierten Überfahrt brechen Epidemien aus, was dazu führt, dass oft ganze Besatzungen siech in Amerika ankommen. Von einer solchen Epidemie scheinen die Glarner Auswanderer verschont geblieben zu sein. Angenehm ist die Überfahrt dennoch nicht. Dürst berichtet:

«Wir waren keine zwei Stunden von Lande entfernt, als sich schon die Seekrankheit bey den meisten einstellte. Da giengs an ein Erbrechen, keiner konnte mehr gerade stehen.»

Über die Verpflegung, die zwar vom Auswanderungsverein bezahlt wurde, aber völlig ungeniessbar war, berichtet Dürst:

«Denn von der Schiffskost, die dazu bestimmt ist die Menschen, wo nicht ganz zu töden, doch krank zu machen, konnte man nichts geniessen. […] Zweyback hätten wir genug, aber diese ist keine Menschliche Kost. Die sieben Schweine, so auf dem Schiffe sind, fressen ihn nicht. Es sind etwa ¼ Pfund schwere Zeltly [kleine Fladen], durch und durch schwarzbraun, so hart, dass man ihn mit einem Hammer verschlagen muss, und vor lauter Grüsch [Kleie] gebacken, nur von einem Wolfsmagen verdaulich, und für einen langsamen Hungertod berechnet. […] Ich wünschte nur, dass diejenigen, die uns so herlich verakordiert haben, ein Blick in dieses Spital werfen könnten. Sie würden über sich selbst erschrecken und eröthen.»

So darben die Reisenden vor sich hin, bis sie nach anderthalb Monaten endlich den langersehnten Ruf hören: Land! Dürst berichtet:

«Alles, was sich noch nicht auf Deck befand, strömte hinauf […]. Alles Volk äusserte sich in Freuden-Ausdrüken und dankte Gott. Und ich glaube auch wirklich, dass es aus aufrichtigem Herzen komme, denn, wenn man schon 46. Tag in diesem Jamerleben zugebracht hat, so ist auch der härteste froh, erlöst zu werden.»

Alle Auswanderer stürmen an Deck, um einen Blick auf den neuen Kontinent zu erhaschen.

Erstmals auf der Eisenbahn

Endlich gelandet, geht es darum, einen Reiseakkord nach St. Louis (Missouri) abzuschliessen, wo die Gruppe auf die Experten treffen soll. Allerdings können nicht mehr alle Glarner die Weiterreise antreten. Sie müssen in Baltimore bleiben, weil ihnen das Geld ausgegangen ist.

Obwohl keiner der Auswanderer Englisch kann, schaffen sie es irgendwie, die weiteren Reiseakkorde bis nach St. Louis abzuschliessen. Zwar werden sie übers Ohr gehauen, indem ihr Gepäck zu schwer gewogen und ein Aufpreis dafür verrechnet wird. Aber Dürst ärgert sich nicht, im Gegenteil:

«Dieser Tag war für uns der schönste und freudigste auf der ganzen Reise bis dato. Das erste mahl in unserm Leben auf der Eisenbahn, konnten wir uns nicht satt sehen. […] Und so kamen wir, unter Gefühlen, die sich nicht beschreiben lassen, Abends an den Fluss Sesqueshana.»

Den grössten Teil der Strecke legen sie aber wiederum auf Wasserstrassen zurück, so dass sie am 23. Juli 1845 in St. Louis ankommen.

Wo sind die Experten?

Hier sollten die beiden Experten die Auswanderer in Empfang nehmen und sie in ihre neue Heimat geleiten. Doch sie sind nirgends zu finden. Schlimmer noch, man erzählt den Auswanderern, dass die Herren Dürst und Streiff auf ihrer Suche nach Land umgekommen seien. Glücklicherweise erreicht kurz darauf ein Brief die Auswanderer, der besagt, dass die beiden Experten in Peru, Illinois zu finden seien.. Man beschliesst daher, in St. Louis auszuharren, während zwei Kundschafter, einer von ihnen Matthias Dürst, nach Peru reisen, um die Experten aufzuspüren. Nach acht Tagen kommen die beiden Kundschafter endlich in Peru an. Doch auch dort sind keine Experten zu finden. Auf dem Postbüro sagt man ihnen, dass sie sich in Wisconsin befänden.

Doch die Kundschafter haben kein Geld mehr zur Weiterreise und sitzen nun irgendwo an der amerikanischen Frontier fest, ohne zu wissen, wo sich denn nun ihr Land befindet. In diesem Moment haben die Glarner für einmal Glück. Dürst beschreibt es so:

«Als wir in ein unfruchtbares Gespräch über unsere Lage verwickelt waren, gesellte sich ein Landsmann von uns, Hans Freuler, von Ennetbühls, zu uns. Er war nicht nur bereit, es [das Geld] zu liehen, sondern anerbot sich sogar, mit uns zu reisen.»

Zu Fuss und mit dem Pferdewagen begeben sich die Drei nach Mineral Point, Wisconsin, wo sie die Experten vermuten. Dort angekommen, erfahren sie, dass die Experten 30 Meilen entfernt Land gekauft haben und «sehnsüchtig» auf die Auswanderer warten. Das Ziel ist zum Greifen nah. Mit dem Wagen fahren die Männer in besagte Richtung.

Endlich am Ziel

Das letzte Stück ihrer langen Reise legen sie nochmals zu Fuss zurück, weil sie einen Bach durchqueren müssen. Dann endlich haben sie ihr Ziel erreicht:

«Richter Dürst und Herr Streiff sahen aus der Ferne, wie wir uns abmühten, und in der Hoffnung, dass wir vielleicht Mitglieder von ihrer Auswanderung-Gesellschaft seien, kamen sie uns entgegen. Die Gefühle, die dann in uns aufstiegen, kann und will ich nicht beschreiben. Uns allen kamen die Freudentränen. Dieser 8. August ist somit der glücklichste Tag.»

Am 17. August 1845, 121 Tage nach ihrer Abreise, kommen schliesslich 108 der ursprünglich 193 Auswanderer in New Glarus, in ihrem neuen Leben an.

Existenzielle Krise im Glarnerland der 1840er-Jahre

Der Biltner Geschichtsstudent Philipp Staub gibt in seiner Arbeit zum Reisetagebuch von Matthias Dürst ein Bild der damaligen Wirtschaftslage im Glarnerland. Um 1800 leben viele Glarner von Heimarbeit, doch die in England entstehende Textilindustrie zwingt sie, ebenfalls Industriebetriebe zu schaffen. Während einer ersten Blüte in den 1830er-Jahren wächst die Bevölkerung stark, anfangs der 1840er aber kommt das «glarnerische Wirtschaftswunder» zum Erliegen. Allein 1842 und 1843 gehen laut Staub 110 Firmen Konkurs. Verdienstlosigkeit breitet sich aus, fast jeder dritte Einwohner wird zum Bettler. Hilfe vom Kanton können sie nicht erwarten, und die Gemeinden leisten erst Unterstützung, wenn die Verwandtschaft bis zur Grenze der eigenen Existenz finanziell geholfen hat. 1844 kommt noch viel mehr Not und Elend dazu, so Staub. Denn die Kartoffelfäule zerstört einen Grossteil der Ernte. Ohne die Kartoffel, die seit den 1770er-Jahren mehr und mehr das Getreide als Grundnahrungsmittel ersetzt hat, hungern ganze Landstriche. Im Glarner Hinterland habe die Kartoffelfäule besonders schlimm gewütet, so Staub.

Die Gemeinden, welche die verarmte Bevölkerung am Leben erhalten mussten, hätten die Not kaum lindern können. In dieser Situation gründeten 15 Gemeinden den Auswanderungsverein. Er organisierte die Reise von zwei Experten, die in Amerika Land kaufen sollten, und die Reise der künftigen New Glarner, von der Matthias Dürst in seinem Tagebuch berichtet. (FRA)

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Guten Tag,
sehr interessanter Bericht und mich reizt es mehr zu wissen Gibt es eine Liste der angekommenen Personen von dieser Zeit? Von meinem Grossvater eine Schwester und Ihr Ehemann reisten zu dieser Zeit auch nach Amerika.

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