«Die Leute können Servettes Erfolg nicht einordnen»
Carlos Varela war Teil des letzten Meisterteams von Servette und spielte mehrere Jahre für YB. Heute ist er TV-Experte. Der gebürtige Genfer schätzt das Meisterrennen in der Super League ein.
Carlos Varela war Teil des letzten Meisterteams von Servette und spielte mehrere Jahre für YB. Heute ist er TV-Experte. Der gebürtige Genfer schätzt das Meisterrennen in der Super League ein.
Als Carlos Varela am 3. April auf der Tribüne des Stade de Genève sitzt, traut er seinen Ohren nicht. Als die Spieler von Servette sich von den gut 6000 Fans verabschieden, die an diesem Mittwochabend gekommen sind, ertönen Pfiffe. Die Enttäuschung darüber, gegen das klare Schlusslicht Stade Lausanne-Ouchy 1:2 verloren und damit die Chance verpasst zu haben, erstmals seit über 20 Jahren wieder an die Tabellenspitze der höchsten Schweizer Liga zu klettern, wiegt offensichtlich schwer. Und Varela sagt in sein Kommentatoren-Mikrofon: «Das finde ich ganz traurig.»
1999 war es noch enger
Der 46-Jährige, der für Servette, Basel, Aarau, YB und Xamax fast 400 Spiele in der Super League bestritten hat, ist heute als Experte und Co-Kommentator beim Bezahlsender Blue tätig, lebt damit seinen Traum, wie er sagt. Mit dem FCB wurde er einmal Meister und gewann zweimal den Cup, und der frühere Flügelspieler war in der Vorrunde der Saison 98/99 Teil jener Servette-Mannschaft, die den bis heute letzten Pokal nach Genf holen konnte.
Es war ein enges Rennen damals, und Servette stand am 36. Spieltag am Ende der Finalrunde nur deshalb vor den punktgleichen Grasshoppers, weil die Grenat in der Vorrunde mehr Punkte geholt hatten. Lausanne-Sport folgte nur einen Zähler dahinter. Auch in diesem Jahr ist in der Super League überraschend ein Dreikampf um die Meisterschaft zwischen den Young Boys, Servette und Lugano entstanden, wobei Varela die ersten beiden Teams so weit oben erwartet hatte.
Dass aber auch die Tessiner im Titelkampf involviert sind, bezeichnet er als «schöne Überraschung», und er sagt im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sogar: «Wenn Lugano nicht sechs Punkte Rückstand hätte, wären sie von der Form her ganz klar Favorit für mich.»
Lugano spielt, wie es sich die anderen beiden wünschten
Bis zum 2:2 am letzten Wochenende in Winterthur hatte das Team von Mattia Croci-Torti sechs Spiele in Serie gewonnen und ist kontinuierlich an YB und Servette herangerückt. «Lugano beeindruckt mich», sagt Varela, «weil sie druckvoll spielen und physisch enorm präsent sind.» Es sind Attribute, die auch mal für die Spielweise der Young Boys und Servette zutreffend waren. Varela erinnert an die Zeit der Berner unter Gerardo Seoane, als YB dreimal Meister und einmal Cupsieger wurde und dabei zahlreiche Rekorde aufstellte.
YB habe sich immer über die drei Faktoren Schnelligkeit, Grösse und Technik von den anderen Teams abheben können, sagt Varela. Von dieser Überlegenheit sei jedoch aktuell mit Ausnahme des immer noch schnellen Meschack Elia nichts zu sehen. «YB macht im Moment keinem Angst. Sie sind eine ganz normale Mannschaft geworden.»
Servette wiederum begeisterte in dieser Saison nicht nur auf europäischer Bühne mit dem überraschenden Einzug in die Gruppenphase der Europa League und dem Vorstoss in die Achtelfinals der Conference League, sondern vorab auch in den einheimischen Wettbewerben. Ende April steht der Cup-Halbfinal in Winterthur an, und in der Super League blieb das Team von René Weiler ab September einmal für 15 Partien de suite ungeschlagen.
Kontrast zwischen Basel und Genf
Auch deshalb findet es Varela traurig, wenn nach einer Niederlage wie jener gegen Lausanne-Ouchy Pfiffe durchs Stadion hallen. «Servette spielt so eine super Saison. Aber die Leute können das nicht einordnen und sehen nur, dass Servette vielleicht nicht Meister wird.» Varela erinnert daran, dass die Genfer vor sechs Jahren noch in der Challenge League waren. Seither sei eine homogene Mannschaft mit einer klaren Philosophie gewachsen. Der Sohn spanischer Einwanderer mag es, wenn solche Strategien von Erfolg gekrönt werden. Und nicht jene, für die nur Business im Vordergrund stehe. «Wohin das führt, sehen wir in der Tabelle», sagt Varela.
Trotzdem werde Genf nie eine Fussballstadt wie Basel, Bern, St. Gallen oder Luzern. Er erinnert an 2002, als er mit dem FCB Meister wurde. «Damals wurden wir noch Monate später eingeladen und feierten mit Tausenden von Leuten. Wenn Servette Meister würde, würde man in der Stadt zwei Tage später nichts mehr davon merken.»
Dass Servette zuletzt dreimal in Folge verloren hat, ist für ihn weniger ein Zeichen von Nervosität davor, mit dem 18. Meistertitel etwas Historisches zu schaffen. Wobei Varela betont, dass ein Titel nicht nur für Genf, sondern die gesamte Romandie bedeutsam wäre. Vielmehr vermutet der gebürtige Genfer, der seit seiner Zeit bei YB in Bern verwurzelt ist, dass Servette nun den Preis zahle für das strenge Programm.
Bruch nach der Nationalmannschaftspause
Die Partie am Sonntag (14.15 Uhr) in Basel wird die 50. sein in dieser Saison. Trainer René Weiler habe zwar in den Wochen, in denen Servette alle drei Tage eine Partie austragen musste, immer wieder rotiert, sagt Varela. «Aber das Team verfügt nicht über 25 Topspieler, die einfach füreinander ausgetauscht werden können.» Und die Nationalmannschaftspause im März, die eigentlich willkommene Erholung hätte bieten sollen, habe vielmehr den Rhythmus gebrochen, den Servette seither sucht.
Nach den drei Niederlagen im Herbst starteten die Genfer zur erwähnten langen Serie der Ungeschlagenheit. Doch Varela glaubt nicht, dass sich die Geschichte diesbezüglich wiederholt. Weil Trainer Weiler damals taktisch umgestellt und die spielerische Stärke seiner Mannschaft besser habe in die Taktik integrieren können. «Jetzt kann Weiler nichts ändern. Die Spieler haben einfach ihre Power verloren, und ich weiss nicht, ob sie sie noch einmal finden.»
Wohin geht also Carlos Varelas Meistertipp? YB werde es wohl trotz aller Widrigkeiten schaffen, sagt er. «Servette und Lugano haben noch Zeit, aber sie dürfen sich keine Ausrutscher mehr leisten.»