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Der Kampf ums Merkel-Erbe - Christdemokraten droht Wahldesaster

Das hätten sich bis vor kurzem wohl nur wenige in Deutschland vorstellen können: Nach 16 Jahren an der Regierung droht den Christdemokraten von Kanzlerin Angela Merkel der Machtverlust.

Agentur
sda
12.09.21 - 09:11 Uhr
Politik
Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz. Foto: Michael Kappeler/dpa
Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Pressekonferenz. Foto: Michael Kappeler/dpa
Keystone/dpa/Michael Kappeler

Je näher die Bundestagswahl am 26. September rückt, desto schlechter werden die Umfragewerte für Merkels CDU und deren bayerische Schwesterpartei CSU, die im Sommer noch wie die sicheren Sieger aussahen. Glaubt man den Meinungsforschern, dann deutet sich im Berliner Kanzleramt ein Machtwechsel an.

Die Wahl am letzten Septembersonntag markiert eine Zeitenwende in Deutschland. Nach 16 Jahren endet die Ära Merkel. Europas dienstälteste Regierungschefin, die seit 1990 im Bundestag sitzt und seit November 2005 Kanzlerin ist, tritt nicht mehr an. Sobald ein Nachfolger vereidigt ist, will sich die 67-Jährige aus der aktiven Politik zurückziehen. Zum ersten Mal seit 1949 tritt bei dieser Bundestagswahl kein Amtsinhaber mit entsprechendem Amtsbonus an.

In Merkels grosse Schuhe treten will Armin Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, seit Januar CDU-Vorsitzender und seit April gemeinsamer Kanzlerkandidat von CDU und CSU. Doch von 30 Prozent Mitte Juli ist die CDU/CSU in Umfragen auf etwa 20 Prozent abgestürzt, in einem Fall sogar unter die 20-Prozent-Schwelle. Im Wahlkampf tat sich Laschet oft schwer.

In einem ungeahnten Höhenflug segeln dagegen die Sozialdemokraten, die Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz als Kandidaten aufgestellt haben. Nachdem es mit Deutschlands ältester Partei in den Jahren der «GroKo» (grossen Koalition) unter Merkel stetig abwärts gegangen war, hat die SPD in den Umfragen seit Jahresmitte nun um rund zehn Prozentpunkte auf etwa 25 Prozent zugelegt. Scholz hätte also Chancen, seine bisherige Chefin abzulösen.

Unwahrscheinlich ist dagegen, dass das Kanzleramt in weiblicher Hand bleibt: Die Grünen, die im Frühjahr nach der Nominierung ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zeitweilig in den Umfragen führten, rangieren derzeit mit rund 17 Prozent nur auf Platz drei.

Gemäss ZDF-Politbarometer hätten 53 Prozent der Befragten gerne Scholz als Kanzler, nur 18 Prozent Laschet und nur 14 Prozent Baerbock. Die SPD-Anhänger stehen nahezu geschlossen hinter ihrem Spitzenmann, bei den Anhängern von CDU/CSU und Grünen fällt die Unterstützung für Laschet beziehungsweise Baerbock verhaltener aus.

Der Regierungschef wird in Deutschland nicht direkt gewählt, sondern von den Abgeordneten des neuen Bundestages. Die gut 60 Millionen Wahlberechtigten, von denen nicht wenige jetzt schon per Briefwahl abgestimmt haben, entscheiden nur über die Stärke der Parteien im Parlament. Allerdings spielt die Person des Spitzenkandidaten bei der Entscheidung oft eine markante Rolle. Und Merkel, die immer noch populärste Politikerin im Lande, steht den Christdemokraten nicht mehr als Zugpferd zur Verfügung.

«Das Wahlvolk will keine Extreme. In Krisensituationen wie jetzt drängt der Wähler in die Mitte, und da findet er die alte Ankerfrau nicht mehr vor», sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der Deutschen Presse-Agentur mit Blick auf die Corona-Pandemie und das internationale Umfeld. Die Rolle des «Ankermanns» trauten viele Wähler jetzt Scholz zu, der ihnen immerhin gut bekannt sei. Scholz profitiere auch davon, dass der linke Flügel seiner Partei stillhalte und es keinerlei Diskussionen um seine Person gebe, während Laschet auch in der eigenen Partei nicht viel zugetraut werde.

Im künftigen Bundestag werden wahrscheinlich wieder sechs Fraktionen sitzen, neben CDU/CSU, SPD und Grünen sind das die Liberalen (FDP), die Linke und die rechtspopulistische AfD. Auf eine Mehrheit der Sitze werden wahrscheinlich nur Dreierbündnisse kommen. Will Scholz also vom Finanzministerium ins Kanzleramt umziehen, bräuchte er auch als Wahlsieger zwei Koalitionspartner.

In der SPD liebäugelt zumindest der linke Flügel mit einem Bündnis aus SPD, Grünen und Linkspartei (Rot-Grün-Rot), falls dies rechnerisch möglich wird. Es würde die deutsche Politik weit nach links verschieben mit Steuererhöhungen für Gutverdienende, einer neuen Vermögenssteuer und einer deutlichen Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns. Zum Stolperstein bei Koalitionsverhandlungen könnte die Verteidigungspolitik werden, weil die Linke raus aus der Nato will und Bundeswehreinsätze im Ausland ablehnt.

Eine rechnerisch gut mögliche Konstellation wäre eine «Ampel» (Rot-Gelb-Grün) aus SPD, Grünen und Liberalen. Allerdings sind die ideologischen Unterschiede zwischen SPD und Grünen einerseits und FDP andererseits vor allem in der Wirtschafts- und Steuerpolitik gross. Eine denkbare Kombination wäre auch SPD mit CDU und FDP. Nicht völlig auszuschliessen ist angesichts der Unsicherheit der Umfragen, dass am Ende selbst Laschet ein regierungsfähiges Bündnis schmieden könnte, auch wenn die CDU/CSU nur zweitstärkste Kraft wird.

Merkel, die der Politik nun unbesiegt Lebewohl sagt, ist vorgeworfen worden, Laschet öffentlich nicht genug zu unterstützen. In der letzten Bundestagssitzung vor der Wahl warf sie sich aber mächtig für ihn in den Ring. «Der beste Weg für unser Land ist eine CDU/CSU-geführte Bundesregierung mit Armin Laschet als Bundeskanzler», sagte sie in ihrer wohl letzten Rede im Parlament.

Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Oskar Niedermayer hängen die Probleme der Union aber nicht nur an der Person Laschet, sondern schlicht und einfach «an der inhaltlichen Entkernung der Partei». Viele Wähler wüssten nicht mehr, wofür die Union heute stehe, sagte er in einem Zeitungsinterview. Die CDU stehe an der Schwelle, ihren Status als Volkspartei für immer zu verlieren, sagte Niedermayer und verwies auf den Zusammenbruch anderer christdemokratischer Parteien in Europa nach Wahldesastern.

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