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Tschechien im Corona-Krisenmodus: «Zahlen sind katastrophal»

Das Feldkrankenhaus der tschechischen Armee war schon in Konfliktgebieten wie dem Irak und Afghanistan im Einsatz. Es leistete humanitäre Hilfe in der Türkei und in Albanien. Jetzt müssen die Soldaten nur rund 100 Kilometer zurücklegen, um ihren Einsatzort in den Messehallen im Prager Stadtteil Letnany zu erreichen. Tschechien ist im Corona-Krisenmodus. «Der Kampf gegen die Pandemie ist jetzt nicht nur für die Armee die Aufgabe Nummer eins», sagt Verteidigungsminister Lubomir Metnar.

Agentur
sda
19.10.20 - 14:23 Uhr
Politik
Die tschechische Armee baut ein Feldkrankenhaus auf dem Prager Messegelände auf. Foto: Josef Vostárek/CTK/dpa
Die tschechische Armee baut ein Feldkrankenhaus auf dem Prager Messegelände auf. Foto: Josef Vostárek/CTK/dpa
Keystone/CTK/Josef Vostárek

Die Sorge wächst, dass die Krankenhäuser bald mit Covid-19-Patienten überlastet sind. Das Feldlazarett - eine kleine Container-Stadt mit Operationssaal, Intensivstation, eigenem Labor und Röntgengeräten - soll als Reserve dienen. Am Montag traf der erste Militärkonvoi aus dem Sanitätsstützpunkt in Hradec Kralove (Königgrätz) in der Hauptstadt ein. Insgesamt werden 339 Tonnen an Ausrüstung und medizinischem Material antransportiert. Bereits am Sonntag soll das Lazarett einsatzbereit sein.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Rekordzahlen vermeldet werden müssen. Erst am Freitag wurde mit 11 105 Fällen erstmals die Schwelle von 10 000 Corona-Neuinfektionen binnen 24 Stunden überschritten. Auf die Bevölkerung umgerechnet nimmt Tschechien längst EU-weit einen traurigen Spitzenplatz bei der Infektionsrate ein. Nach den jüngsten Zahlen der EU-Agentur ECDC steckten sich in Tschechien binnen 14 Tagen 858,6 Menschen je 100 000 Einwohner mit dem Virus an – der höchste Wert in der EU.

Am meisten beunruhigt Experten, dass inzwischen fast jeder dritte Test in dem Land mit nur knapp 10,7 Millionen Einwohnern positiv ausfällt. Dabei hatte Ministerpräsident Andrej Babis noch im August auf einer internationalen Konferenz sagen können, Tschechien sei «best in Covid». Aus dem Musterland, das im März als erstes in Europa eine Maskenpflicht eingeführt hatte, ist nun ein Sorgenkind geworden. «Die Zahlen sind katastrophal», räumt Babis ein. Der Unmut über das Krisenmanagement der Regierung wächst.

Was ist schiefgelaufen, fragen sich nun viele. «Der Fehler ist wahrscheinlich im Sommer geschehen, als die Massnahmen schnell gelockert wurden», sagt der Epidemiologe Petr Smejkal vom Prager Forschungskrankenhaus IKEM. Die Menschen hätten vergessen, dass das Virus immer noch unter uns ist. Auch die Regierung und verschiedene Experten hätten widersprüchliche Botschaften ausgesendet. Immerhin sei die Kommunikation inzwischen besser geworden.

Verhalten sich viele Tschechen wie Schwejk, der Soldat aus dem Schelmenroman Jaroslav Haseks, der sich immer irgendwie durchmogelt? «Ja, das hängt damit zusammen», meint Smejkal. Was die Akzeptanz der Regeln angehe, habe sich die Haltung der Menschen seit dem Frühjahr geändert. Das Vertrauen zwischen Regierung und Bevölkerung sei längst nicht so weit entwickelt wie in Deutschland oder Schweden. So kam es am Sonntag in Prag zu Ausschreitungen, als Hunderte Fussball- und Eishockey-Fans gegen die Einschränkungen im Sport protestierten. 25 Polizisten wurden dabei nach Behördenangaben verletzt.

Inzwischen sind Schulen und Gastronomie geschlossen, Sport- und Kulturveranstaltungen ausgesetzt, Treffen von mehr als sechs Personen untersagt. Doch die Corona-Zahlen steigen und steigen. Damit wird der andauernde Personalmangel im Gesundheitswesen zu einem immer grösseren Problem. «Eine Krankenschwester für die Intensivstation auszubilden, braucht Zeit», sagt Smejkal. Seit Jahren gehen jährlich Hunderte Ärzte, Medizinabsolventen und Pfleger auf der Suche nach höheren Gehältern und besseren Arbeitsbedingungen ins Ausland.

Die Ärztekammer hat an die Auswanderer appelliert, vorübergehend zurückzukehren, um ihren Landsleuten zu helfen. Der Biologe Jaroslav Flegr hat sogar vorgeschlagen, notfalls Veterinärmediziner einzusetzen. Wie ernst die Lage ist, zeigt auch, dass sich die Regierung bereits in Nachbarländern wie Deutschland erkundigt hat, ob sie im Bedarfsfall Intensivpatienten aufnehmen könnten.

Mittlerweile wird selbst ein zweiter harter Lockdown mit Ausgangsbeschränkungen nicht mehr gänzlich ausgeschlossen. Die Entscheidung könnte Anfang November fallen. «Wenn man sich darunter vorstellt, dass alle zu Hause sitzen und nirgendwo hingehen, dann muss das einen wirksamen Effekt haben», sagte Gesundheitsminister Roman Prymula der Zeitung «Pravo».

Präsident Milos Zeman appellierte in einer Fernsehansprache an die Disziplin der Bevölkerung beim Maskentragen. Das Staatsoberhaupt empfahl den Menschen dabei, auf Fachleute zu hören und nicht auf weit verbreitete Verschwörungstheorien hereinzufallen. Der 76-Jährige sagte: «Uns steht nur eine Waffe zur Verfügung, solange es keine Impfung gibt: Diese Waffe ist ein kleines Stück Stoff.»

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