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«Wir dürfen nicht in eine depressive Selbstisolation stürzen»

Für viele Angestellte verändert das Coronavirus die Situation auf einen Schlag. Die Psychologin Judith Haas gibt Tipps, um die Leistungsfähigkeit zu erhöhen und um Burn-outs zu vermeiden.

Fabio
Wyss
16.03.20 - 07:53 Uhr
Wirtschaft
Kreativität ist gefragt: Die Vorschläge von Arbeitspsychologin Judith Haas sollen Arbeitgebern und Angestellten helfen.
Kreativität ist gefragt: Die Vorschläge von Arbeitspsychologin Judith Haas sollen Arbeitgebern und Angestellten helfen.
BILD FABIO WYSS

Die Auswirkungen des Coronavirus auf den Arbeitsmarkt sind riesig. Als Arbeitspsychologin und dank ihrer langjährigen Tätigkeit in der Personalentwicklung eines Grossunternehmens beschäftigt diese Thematik Judith Haas Gottsponer seit Langem. Als Mutter von schulpflichtigen Kindern ist sie von den Schulschliessungen nun auch persönlich gefordert.

Judith Haas, was bedeuten die Schulschliessungen für Ihre Familie?

JUDITH HAAS GOTTSPONER: Ich habe das Glück, dass ich sehr flexibel arbeiten kann, so können wir das gut regeln. Für Familien, die fixe Arbeitszeiten haben, ist es eine Herausforderung. Ich hoffe, für diese gibt es Betreuungsangebote – wie beispielsweise im Tessin, wo Eltern entscheiden können, ob sie ihre Kinder in die Schulen schicken wollen oder nicht. Als Mutter bin ich aber froh, dass die Schulen geschlossen sind.

Schliessen müssen wegen des Veranstaltungsverbots auch viele Unternehmen. Dadurch werden viele Leute auf einen Schlag arbeitslos.

Das Wichtigste dabei ist, dass die Betroffenen sich vor Augen führen, dass das nur vorübergehend ist – das wird sich wieder ändern.

Es bleibt aber ein Schock ...

Wir dürfen uns deswegen aber nicht in eine depressive Selbstisolation stürzen. Die Situation kann kreativ und konstruktiv genutzt werden. Persönliche Projekte können aufgegleist werden. Ich empfehle, dass dafür Arbeitszeiten und ein angepasster Tagesrhythmus geplant werden. Eine gewisse Routine, Bewegung und Kontakte sind für die Gesundheit essenziell.

Angestellte im Homeoffice haben jetzt weniger Kontakte. Was tun?

Indem man aktiv Zeit für Kontakte einplant; zum Beispiel kontaktiert man nach der Mittagspause jemanden, von dem man schon länger nichts mehr gehört hat. Verabredungen für Spaziergänge sind ein anderes Mittel. Es sind neue kreative Wege gefordert:

«Wieso nicht eine Spaziergangssitzung einmal pro Woche mit Arbeitskollegen?»

Dies muss initiiert werden, am Ende freuen sich aber alle Involvierten.

Angenommen, Sie leiten ein Unternehmen. Würden Sie auf Homeoffice setzen, um zu verhindern, dass ganze Teams krankheitshalber ausfallen?

Ja natürlich, das kommt aber sehr auf die Branche und auf die technischen Voraussetzungen an. Im Moment ist es aber das Beste. Denn Personen, die zu Hause bleiben, entlasten das ganze System. Wenn die Züge plötzlich leer sind, sind jene, die immer noch darauf angewiesen sind, ebenfalls einem geringeren Risiko ausgesetzt.

Was ist mit den Nachteilen von Homeoffice? Stichwort Ablenkung.

Um diese zu reduzieren, empfiehlt sich eine Tagesstruktur. Für Leute, die jetzt erstmals im Homeoffice arbeiten, lohnt es sich, zu Beginn in Ruhe einige grundsätzliche Dinge zu überlegen. Folgende Fragen sind zu klären: Wann arbeite ich? Zu welcher Zeit bin ich produktiv? Wann habe ich Zeit für Bewegung, Kontakte und Familie? Dieser Tagesablauf kann sehr individuell ausfallen. Ich rate aber an, nicht zu kurz vor dem Schlafengehen noch zu arbeiten. Davor braucht es eine längere Ruhephase ...

... in so einer Ruhephase fällt einem plötzlich ein: Das habe ich noch vergessen. Der Laptop liegt griffbereit, also macht man es noch rasch.

Das macht Sinn, wenn es denn wirklich wichtig ist. Der Tagesrhythmus kann auch mal durchbrochen werden – wir sind keine Maschinen. Eine Tagesroutine soll nicht rigide sein, sondern eine Orientierung geben.

Birgt die jetzige Ausnahmesituation Gefahren für Arbeitnehmer?

Gewissermassen ja. Im Arbeitsalltag gibt es viele natürliche Unterbrechungen, wie einen Schwatz am Kaffeeautomaten. Wenn Pausen zu Hause nicht gemacht werden, erschöpft das. Alle zwei Stunden längere Pausen einzuplanen hilft. Kleinere Pausen von fünf Minuten braucht es viel häufiger. Schlechtes Gewissen ist nicht angezeigt: Die Pausen wirken sich positiv auf die Leistungsfähigkeit aus und beugen gegen Burn-outs vor.

Und wie schaffen es Eltern, ihre Kinder zu betreuen und gleichzeitig zu arbeiten?

Es empfiehlt sich, fixe Spielzeiten einzuplanen. Wichtige Arbeiten sollen dann gemacht werden, wenn Kinder selbstständig spielen. Ältere Geschwister können auch mehr in die Verantwortung eingebunden werden und einen Teil der Betreuung oder des Haushalts übernehmen.

«Arbeitgeber sollen aber realistisch bleiben; die Ansprüche an die Leistungsfähigkeit müssen sie teils herunterschrauben.»

Müssen das die Firmen auch bei Arbeitnehmern, die nicht so eigenständig sind?

Nicht unbedingt, Firmen können häufiger Nachfragen und klare Ziele vorgeben. Offene Gespräche über Organisation und Motivationshilfen können helfen. Vielleicht muss das nicht immer der Chef machen, sondern Arbeitskollegen auf Augenhöhe. Ein Vorgesetzter sollte nicht als Kontrolleur auftreten, sondern auch im Homeoffice das Selbstmanagement des Arbeitnehmers fördern.

Was können andererseits Angestellte tun, um die Homeoffice-Organisation in der Firma zu verbessern?

Sie sollen ihre Ideen liefern, um das Team zusammenzuhalten. Beispielsweise Teamsitzungen via Neue Medien. Die Jungen sind schon sehr vernetzt und können das weitergeben.

Ebnet das Coronavirus dem Homeoffice den flächendeckenden Durchbruch?

(lacht) Ich habe keine Ahnung. Aber diese Erfahrungen werden den Arbeitsalltag nachhaltig verändern. Es wird aber sicher für viele weiterhin ein Bedürfnis bleiben, für die Arbeit irgendwo hinzugehen, wo man weiss: Man hat es gut miteinander. Und nach Feierabend wartet wieder das Zuhause.

Zur Person
Judith Haas Gottsponer ist verheiratet und Mutter dreier Kinder. Nach ihrem Psychologiestudium an der Universität Zürich sammelte sie mehrjährige ­Berufspraxis in der Personalentwicklung einer Versicherung. Heute arbeitet die 49-Jährige selbstständig und bietet in Rapperswil-Jona Systemische Coachings an. Überdies betreut Haas an der Technischen Universität in Kaiserslautern Masterarbeiten zu Themen wie «Virtuelle Teams in Unternehmen». Die rare Freizeit ist der Bewegung und dem Lesen gewidmet. (wyf)

 

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