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Mord im Klöntal (4/8): Was oben am See geschah

Verhörrichter Tschudi durchleuchtet in der neuen True-Crime-Folge die Ehe des toten «Staldengarten»-Wirts Andreas mit Maria Stüssi. Was steckt wirklich hinter den Gerüchten über Affären und Gewalt?

Ueli
Weber
11.11.24 - 04:30 Uhr
Glarus
Die Pfeife eines Toten? Zeugen wollen Sohn Fridolin beobachtet haben, wie er die Pfeife raucht, welche angeblich mit seinem Vater im Löntschtobel verschwand. 
Die Pfeife eines Toten? Zeugen wollen Sohn Fridolin beobachtet haben, wie er die Pfeife raucht, welche angeblich mit seinem Vater im Löntschtobel verschwand. 
Illustration Ueli Weber/Dall-E

Was bisher geschah: 1882 verschwindet «Staldengarten»-Wirt Andreas Stüssi eines Nachts spurlos und wird Tage später nackt im Fluss Löntsch bei Riedern angeschwemmt. Verhörrichter Jacques Tschudi folgt im zweiten Teil Hinweisen auf einen Geschäftspartner und zwei dubiose Männer, die nach dem Verschwinden des Wirts im Löntschtobel beobachtet wurden. Ein mysteriöser Rauch über dem «Staldengarten» und die fehlenden Kleidungsstücke werfen in Folge 3 neue Fragen auf. Alle bisherigen Folgen findet ihr hier im Dossier. 

Andreas Stüssi heiratete Maria Vögeli im Februar 1863. Sie waren als Nachbarn in Riedern aufgewachsen. Er war 25 Jahre alt, sie 17. Vier Monate nach der Hochzeit kam Tochter Regula zur Welt. War die Ehe eine «wirkliche Herzenssache», will Verhörrichter Tschudi wissen? «Ich war ja ein 17-jähriges Kind und was der Ehestand zu bedeuten habe, hat mir niemand gesagt», erinnert sich Maria Stüssi. «Ich habe nicht nachgedacht, und ich denke, er auch nicht.»

Andreas Stüssi hatte etwas Geld von seinem Vater geerbt und führte in den ersten Jahren der Ehe einen Bauernbetrieb mit etwa 20 Kühen. Im Sommer wohnten die Eheleute in ihrem Haus im malerischen Klöntal am See, den Rest des Jahres verbrachten sie in Riedern. Allen Berichten zufolge lief der Bauernbetrieb schlecht.

1873 übernahmen sie die Wirtschaft «Rhodannenberg» am Eingang zum Klöntal. Auch hier schien das Geschäft nicht gut zu laufen. Seinen Frust liess Andreas Stüssi an seiner Frau aus. Die damalige Haushälterin berichtet: «Stüssi, ein überhaupt roher, streitsüchtiger Mann, hat seine Frau auch roh und brutal behandelt.»

Im Klöntal führen Andreas und Maria Stüssi eine Gastwirtschaft direkt am See. Auf dieser alten Postkarte ist der See bereits aufgestaut, was er in den 1870ern noch nicht war.
Im Klöntal führen Andreas und Maria Stüssi eine Gastwirtschaft direkt am See. Auf dieser alten Postkarte ist der See bereits aufgestaut, was er in den 1870ern noch nicht war.

Verhörrichter Tschudi bekommt einige wilde Geschichten aus dieser Zeit zu hören. So soll Maria Stüssi ihren Mann während eines Streits mit dem Pendel einer Uhr so stark an den Kopf geschlagen haben, dass sie glaubte, ihr Mann sei tot, und den Nachbarn zu Hilfe rief. Dieser erinnert sich allerdings weniger dramatisch an diesen Abend. Als er ankam, lag Stüssi jedenfalls nicht tot in der Stube, sondern polterte betrunken vor dem Haus herum. Von Blut oder Verletzungen sei nichts zu sehen gewesen. Nur «geflamändert» habe der Andreas wegen seiner Frau.

Worüber sich die Eheleute stritten, darüber hört Tschudi verschiedene Schilderungen. Eine Freundin von Maria, Barbara Trümpi, will wissen, dass es meistens darum ging, dass diese nicht mit ihrem Mann schlafen wollte. Die Haushälterin wiederum berichtet: «Die Frau hatte eine grosse Abneigung gegen ihren Mann und sah andere Mannspersonen lieber als den Ehemann. Ich kann nicht gerade behaupten, dass sie mit solchen verbotenen Umgang gehabt hat, weil ich sie nie dabei beobachten konnte. Dagegen sind mir ihre Beziehungen zu Männern, die in der Wirtschaft ein- und ausgingen, etwas verdächtig vorgekommen.»

Maria Stüssis Vater, Gemeindepräsident Vögeli, meint dagegen, das Ehepaar habe sich vor allem wegen des nicht rentierenden Bauernbetriebs gestritten. Seine Tochter wollte diese Geldverschwendung am liebsten ganz aufgeben. Doch als es um den Verkauf ging, warf Andreas Stüssi seiner Frau wütend an den Kopf: «Soll ich denn anfangen zu saufen?» Dabei schien er dies ohnehin schon oft zu tun.

Allerdings, und da sind sich alle einig: Seit sie den «Staldengarten» eröffnet haben, ist es viel friedlicher geworden zwischen Andreas Stüssi und seiner Frau Maria Stüssi. Gewalt und offenen Streit will niemand mehr mitbekommen haben.

Doch dann gibt es noch die Sache mit den angeblichen Affären. Da räumt nämlich auch Maria Stüssis Vater ein, dass da einmal etwas war.

Eine alte Affäre 

Vom meisten Geschwätz hält Verhörrichter Tschudi wenig. Er notiert: «Das Publikum hatte sich der Sache in einer Weise bemächtigt, die zu vielen Übertreibungen führte. Manche nicht ganz charakterfeste und geistig und sozial unabhängige Personen konnten leicht irregeleitet werden und deponierten unter diesen Einflüssen Aussagen.»

Doch eine dieser Geschichten weckt Tschudis Interesse: Angeblich hatte Maria Stüssi einst eine Affäre mit einem Knecht und plante, mit ihm nach Amerika durchzubrennen. Sie verliess sogar ihren Mann für eine Weile.

Andreas Stüssis Geschäftspartner beim Bau der Strasse, Förster Markus Schuler, hat davon gehört. «Ob es wahr ist, weiss ich nicht», sagt er zu Tschudi. Marias Vater, Gemeindepräsident Vögeli, gibt zu, dass da wohl etwas war. Das sei aber schon Jahre her.

Was die Angelegenheit für Tschudi so verdächtig macht, ist der Fakt, dass eben dieser Knecht am Montag, zwei Tage nach Andreas Stüssis Verschwinden, im «Staldengarten» auftaucht und ein Bier trinkt. Auch am Dienstag kehrt er auf ein Glas ein. Und am Mittwoch, bevor Landjäger Stüssi den toten Andreas Stüssi aus dem Löntsch zieht.

Weil er schon früher bei den Stüssis ausgeholfen hatte, steht er Maria und den Kindern auch jetzt wieder als Knecht zur Seite, wo der Vater gestorben ist.

Alois, der Knecht 

Der Knecht heisst Alois Kistler, ist 39 Jahre alt und ledig. Seit einigen Tagen ist er wieder in der Gegend. Er arbeitet auf dem Schlattberg, einer Anhöhe etwas über der Strasse ins Klöntal. Dort «bürdelt» Kistler, wie er zu Verhörrichter Tschudi sagt: Er sammelt Äste und Zweige und bindet sie zu Bündeln zusammen. Auch er muss bei Tschudi in Glarus antraben. Die erste Einvernahme ist kurz.

«Seit wann haltet Ihr Euch wieder im Klönthal auf?», will Tschudi wissen. 
«Gerade heute sind es acht Tage, dass ich wieder an die Schlattberge hinauf kam; vorher war ich wenigstens drei Wochen in Bilten mit Streuemachen beschäftigt.»

«Seid Ihr auch wieder im ‹Staldengarten› eingekehrt?» 
«Am Montag auf dem Wege habe ich dort ein Glas Bier getrunken. Am Dienstag regnete es wieder, da ging ich wieder nach Bilten und trank ein Glas Bier im ‹Staldengarten›. Sobald das Wetter sich besserte, ging ich wieder auf die Berge und kehrte auch dann wieder ein.»

«Habt Ihr mit den Wirtsleuten am Montag auch vom Andreas geredet?» 
«Nein, kein Wort. In der Stube waren Präsident Vögeli und Präsident Oertli und ich ging nicht hinein. Ein Kind brachte mir mein Glas heraus. Die Frau habe ich nicht gesehen.»

«Wart Ihr nicht früher Knecht bei Andreas Stüssi?» 
«Ja, in den 70er-Jahren, dann weg und wieder zu ihm. Im letzten Frühjahr, bevor ich zu Hauptmann Blumer kam, war ich noch dort an der Kost, während ich bürdelte. Ich glaube, anfangs März sei ich zu Hauptmann Blumer nach Bilten gekommen.»

«Es geht das Gerücht, dass Ihr mit Frau Stüssi vertrauten Umgang gehabt hättet?» 
«Ich weiss nichts davon, das darf ich bestimmt erklären.»

«Ihr sollet sogar mit ihr nach Amerika haben gehen wollen?»
«Das ist nicht wahr!»

Alois Kistler darf gehen. Aber Tschudi wird das Alibi überprüfen lassen.

Der wortkarge Sohn

Fünf Tage nachdem sie die Leiche seines Vaters aus dem Löntsch gefischt haben, kommt Sohn Fridolin aus dem Klöntal herunter und sagt erstmals bei Verhörrichter Tschudi aus.

«Was könnt Ihr uns über das Verschwinden und den Tod Eures Vaters mitteilen?», fragt ihn Tschudi. Fridolin bleibt wortkarg: «Nichts.»

Fridolin Stüssi ist 18 Jahre alt. Während seine ein Jahr ältere Schwester Regula und Mutter Maria die Gäste im «Staldengarten» bewirten, führen er und Vater Andreas den Bauernbetrieb im Klöntal oben. Oder zumindest das, was davon geblieben ist. Fridolin geht Wildheuen und schaut zu den Geissen und der Kuh im Berggut. So nennen sie das kleine Haus, welches die Familie am Eingang des Klöntals besitzt. Solange es nicht Winter ist, übernachtet Fridolin oft allein dort oben am See.

Fridolin behauptet, seinen Vater zuletzt am Freitagnachmittag gesehen zu haben, als sie im oberen Klöntal gemeinsam mit einem Knecht Heu auf einen Wagen luden. Am Nachmittag fuhren Andreas Stüssi und der Knecht fort, luden auf dem Weg noch Förster Schuler auf. Fridolin schlief bei den Geissen und der Kuh. Als er am folgenden Morgen wie gewohnt die Milch in den «Staldengarten» brachte, war der Vater schon fort.

Die Pfeife eines Toten

Verhörrichter Tschudi interessiert sich jedoch besonders dafür, was Fridolin nach dem Verschwinden seines Vaters angeblich getan hat. Gleich drei Zeugen wollen Sohn Fridolin gesehen haben, wie dieser nach dem Tod seines Vaters dessen Pfeife rauchte. Dabei hatten Maria und ihre Töchter angegeben, auch die Pfeife sei in der Nacht zusammen mit Andreas Stüssi verschwunden. Als die Landjäger den «Staldengarten» durchsuchten, fanden sie jedenfalls keine Pfeife.

Als Verhörrichter Tschudi Sohn Fridolin wegen der Pfeife zur Rede stellt, streitet dieser erst ab, überhaupt geraucht zu haben. Erst als ihm Tschudi sagt, dass ihn Zeugen gesehen hätten, räumt er ein, dass er vielleicht einmal geraucht habe. Wann genau habe er aber vergessen. Warum er es nicht gleich zugab? Er habe es vor seiner Mutter verheimlichen wollen, sagt Fridolin.

Tschudi drückt Fridolin einen Bleistift in die Hand und lässt ihn die Pfeife ins Verhörbuch zeichnen. Dort findet man die Zeichnung heute noch zwischen den Fragen und Antworten des Verhörs. 

Fridolins Zeichnung der Pfeife, welche er geraucht haben will. 
Fridolins Zeichnung der Pfeife, welche er geraucht haben will. 
Bild Ueli Weber

Das Telegramm aus Zürich

Tschudi will wissen, wie Fridolin in den Besitz der Pfeife kam. «Ich hatte sie von Alois Kistler», antwortet Fridolin. Dieser sei von den Schlattbergen zum See herübergekommen, um Milch zu holen. Da hat er ihm nach Fridolins Darstellung die Pfeife gegeben.

Pfeifenrauchen scheint vergesslich zu machen. Auch Alois Kistler will sich zuerst nicht daran erinnern, Fridolin eine Pfeife gegeben zu haben. Mit etwas Nachhilfe von Tschudi kommt Kistler schliesslich doch noch in den Sinn, dass er dem Burschen seine Ersatzpfeife geliehen hat. «Dahinten hat er ein paar Züge geraucht», sagt Kistler. Das sei aber seine eigene Pfeife gewesen und nicht die von Andreas Stüssi.

Tschudi beschlagnahmt die Pfeife und zeigt sie den Zeugen, welche Fridolin beim Rauchen gesehen hatten. Diese erkennen sie wieder. Tschudi kann aber nicht beweisen, dass es tatsächlich die Pfeife des Toten ist. Die Pfeife bleibt bei den Akten. Er bekommt sowieso eine wichtigere Spur.

Am Abend des 6. Dezembers trifft endlich ein Telegramm des Chemikers aus Zürich ein, welcher den Mageninhalt des Toten untersucht hat. Als Tschudi die Nachricht gelesen hat, ordnet er sofort die ersten Verhaftungen an.

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland.

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