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Mord im Klöntal (3/8): Rauch über dem «Staldengarten» 

Verhörrichter Tschudi rekonstruiert in der neuen True-Crime-Folge Andreas Stüssis letzte Stunden. Ein mysteriöser Rauch über dem «Staldengarten» und fehlende Kleidungsstücke werfen neue Fragen auf.

Ueli
Weber
04.11.24 - 16:30 Uhr
Glarus
Zeugen beobachten Rauch: Wurden die Kleider des nackten Toten im «Staldengarten» verbrannt?
Zeugen beobachten Rauch: Wurden die Kleider des nackten Toten im «Staldengarten» verbrannt?
Illustration Ueli Weber/Dall-E

Was bisher geschah: 1882 verschwindet «Staldengarten»-Wirt Andreas Stüssi eines Nachts spurlos und wird Tage später nackt im Fluss Löntsch bei Riedern angeschwemmt. Verhörrichter Jacques Tschudi folgt Hinweisen auf einen Geschäftspartner und zwei dubiose Männer, die nach dem Verschwinden des Wirts im Löntschtobel beobachtet wurden. Alle bisherigen Folgen findet ihr hier im Dossier. 

Samstag, 30. September, 1882: Der Morgen nach Andreas Stüssis Verschwinden

Frühmorgens wird im «Staldengarten» zuerst für die Schweine gekocht, die hinter dem Haus im Stall leben. Für gewöhnlich feuert die älteste Tochter, Regula, oder Maria Stüssi dafür den Ofen an. Sohn Fridolin bringt dann frische Milch von der Kuh aus dem Klöntal vorbei. 

Wenn die ersten Hausarbeiten erledigt sind, waschen sich Maria und Regula Stüssi im Elternschlafzimmer, dem «Schlafgaden». Davon zeugen der Spiegel mit den Wasserflecken und die Kämme, welche dort aufbewahrt werden.

Vom Vater und seinen Kleidern fehlt an diesem Samstagmorgen jede Spur. Das behaupten die Mutter und ihre Töchter einstimmig. Die 15-jährige Margrith erinnert sich später: «Am Samstagmorgen standen wir miteinander auf, die Mutter stellte dann die Lampe in den Schlafgaden hinein und sagte, der Vater sei fort.»

Auf dem Tisch steht eine angebrochene Flasche Schnaps. Dabei trinkt Vater eigentlich selten so früh. Laut Fridolin kommt es sogar vor, dass die Schnapsflasche, die sie zur Arbeit mitnehmen, bis zum Znüni immer noch voll ist. Und den Tresterbrand in der Flasche mag Andreas Stüssi eigentlich auch nicht. Er bevorzugt Kirsch oder Rum.

Später sagen Mutter Maria und Tochter Regula, sie hätten sich nichts dabei gedacht. Sie glauben, Vater sei früh los, um wie angekündigt ein Rind in der Rossmatt, ganz hinten im Klöntal, zu holen. Auch wenn er sonst nicht so gerne früh aufsteht.

Andreas Stüssi hat am Tag vor seinem Verschwinden angekündigt, er wolle im Klöntal oben ein Rindli holen. Das Bild ist digital nachkoloriert. 
Andreas Stüssi hat am Tag vor seinem Verschwinden angekündigt, er wolle im Klöntal oben ein Rindli holen. Das Bild ist digital nachkoloriert. 
Bild Landesarchiv Glarus

Samstag, 7. Oktober: Die Nachsektion

Verhörrichter Tschudi ordnet eine zweite Obduktion des Toten an. Am frühen Samstagmorgen versammeln sich Tschudi, Doktor Krüger und Staatsanwalt Gallati in der Leichenhalle des Spitals. Tschudi will die Leiche mit eigenen Augen sehen, wie er sagt. Vielleicht will er Doktor Krüger auch über die Schulter schauen.

Krüger hatte den Magen bei der ersten Sektion geöffnet und geleert, ohne eine Probe zu nehmen. Darum muss er jetzt Verdauungsreste aus dem obersten Teil des Dünndarms entnehmen. Die Probe schickt er später nach Zürich, wo sie in der chemischen Zentralstation untersucht werden soll.

Nach der Leichenschau meldet Tschudi, dass einer Beerdigung nichts mehr im Wege stehe. Maria Stüssi hatte ihren Mann nicht mehr sehen wollen. Auch bei der Beerdigung wird sie keine Tränen vergiessen.

Freitag, 29. September: Der letzte Gast

Der letzte Gast im «Staldengarten» am Vorabend des Verschwindens ist Doktor Buck aus Netstal. Der Arzt und Hobbybotaniker wird später zu einem der «Rosenväter der deutschen Rosenzüchtung». Jetzt ist er aber erst einmal müde von einem Tag Haselnüsse sammeln.

Buck erinnert sich später folgendermassen an seine Einkehr im Wirtshaus: «Ich war an jenem Tage in den Schlattbergen gewesen. Auf dem Rückweg kehrte ich, wie oft, im ‹Staldengarten› ein und trank ein Glas Wein. Es wird etwa um halb sechs Uhr herum gewesen sein. An dem Tische, zunächst dem Schlafgaden, sass Stüssi, und bei ihm das kleinste Kind, mit dem er spielte und das er küsste und herzte, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ich sagte zu ihm, er sei heute gar freundlich mit dem Kinde. Er entgegnete, er gäbe dieses um alles in der Welt nicht her. Vorn am gleichen Tische sass die Frau, ihr Gesicht etwas von ihm abgewendet, und strickte. An einem anderen Tische sassen zwei Gäste aus dem Arbeiterstand, denen ich weiter keine Aufmerksamkeit schenkte.

Ich blieb ungefähr eine halbe Stunde, und während dieser Zeit redeten Stüssi und die Frau nichts miteinander. Bei meinem Fortgehen begleiteten sie beide mich vor die Türe. Stüssi sagte: ‹Herr Doktor, könnt ihr mir nicht etwas geben? Ich habe einen Ausschlag, den ich kaum aushalte.› Er liess mich die Arme sehen, und ich fand die Zeichen der sogenannten Nesselsucht, die oft vorkommt. Ich versprach, ihm etwas zu rüsten, und er sagte, ich solle es ihm bald bringen.»

Andreas Stüssi juckt es schon länger am ganzen Leib. Seine Frau reibt ihn drei Mal täglich ein, doch es nützt nichts. Auch das Schröpfen durch die Frau des Landjägers Jakober brachte keine Linderung.

Der «Staldengarten» auf einer Postkarte am Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier kehrt Doktor Buck ein, nachdem er Haselnüsse gesammelt hat. Das Bild ist digital nachkoloriert. 
Der «Staldengarten» auf einer Postkarte am Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier kehrt Doktor Buck ein, nachdem er Haselnüsse gesammelt hat. Das Bild ist digital nachkoloriert. 

Freitag, 29. September: Das letzte Mahl

Nachdem Doktor Buck den «Staldengarten» verlassen hat, isst die Familie im hinteren Stübli zwischen Küche und Elternschlafzimmer zusammen das Znacht. So schildern es Maria Stüssi und ihre beiden Töchter Regula und Margrith dem Verhörrichter.

An diesem Abend macht die älteste Tochter Regula wie gewöhnlich die Küche und tischt auf. Die Tischordnung ist immer gleich: Vater Andreas Stüssi setzt sich mit dem Rücken zur Küchentüre an den Tisch, ihm gegenüber sitzen Regula und die beiden Kleinen. Am Tischkopf sitzt Mutter Maria Stüssi. In der Regel gibt es Brot und Käse oder Kartoffeln zu essen. Dazu trinken alle Kaffee. Eine besondere Kaffeetasse nur für sich benutzt niemand ausser den Kindern. Danach fragt Verhörrichter Tschudi später genau.

Maria Stüssi erhebt sich wie gewöhnlich als Erste vom Tisch und geht in die Stube. Um etwa acht Uhr abends zieht sich Andreas Stüssi ins Schlafzimmer zurück. «Ohne ein Unwörtli gingen wir alle zu Bette», schildert es Maria Stüssi später.

Freitag, 29. September: Die letzte Nacht

Wegen seines Ausschlags schläft Andreas Stüssi alleine im Ehebett im Schlafgaden neben der Wirtsstube.  «Seit der Vater seines Bisses wegen geschröpft hatte, sagte er zur Mutter, es sei ihm lieber, wenn sie hinauf gehe, damit sie den ‹Biss› nicht auch noch erbe», sagt Tochter Regula im Verhör. «Seither schlief sie bei mir überoben und die Schwester und zwei Kinder schlafen auf der Russdiele.» 

Etwa eine Viertelstunde nach Andreas Stüssi gehen auch Regula, ihre Schwester Margrith und Mutter Maria Stüssi zu Bett. Die kleineren Töchter sind da schon im Bett. Sohn Fridolin schläft oben im Klöntal bei den Tieren.

Solange es nicht besonders kalt ist, schläft Andreas Stüssi nackt. Höchstens im Winter kommt es vor, dass er das Hemd, das er tagsüber trägt, auch zum Schlafen anbehält. Vor dem Zubettgehen legt er Strümpfe, Weste und Rock gewöhnlich auf den Stubentisch, die Schuhe stellt er zum Ofen. Seine Hosen und das Hemd legt er aufs Bett.

Tschudi interessiert sich besonders für die Kleider des Toten. Was hatte er getragen? Wo waren sie geblieben? Regula und Maria Stüssi berichten übereinstimmend, dass er an seinem letzten Abend alte wollene Hosen trug, ein weisses Baumwollhemd, eine Weste und eine dicke Strickjacke: seinen «Büffel».

Mittwoch, 4. Oktober: Der Hut ist noch da

Landjäger Stüssi geht nochmals die Ufer des Löntschs ab: vom Ausgang des Löntschtobels bis nach Netstal und wieder zurück. Vielleicht sind ja doch noch Kleiderreste angeschwemmt worden. Nichts. Auch in den Rechen der Fabrikwehre ist nichts hängen geblieben.

Tschudi hatte sich sowieso keine grosse Hoffnung gemacht: «Bei dem damaligen hohen Wasserstande ist ein Fortschwemmen von Kleidungsstücken in unbemerkbarer Weise leicht begreiflich.» Vor dem Bau des Staudamms im Klöntal ist der Löntsch noch keine «Restwasserstrecke» des grossen Löntschwerks und führt oft mehr Wasser als heute.

Wobei nicht ganz alle Kleidungsstücke weg sind, die Andreas Stüssi zu tragen pflegte, wenn er aus dem Haus ging. Bei der Durchsuchung des Hauses finden die Landjäger seine alte, kaputte Kappe, welche seine Frau und Töchter schon längst wegwerfen wollten, damit er sie endlich nicht mehr trage. Dabei sei der Vater morgens ohne einen Hut nie aus dem Haus, sagt Sohn Fridolin. 

«Setzt man voraus, dass Stüssi im Wirtshaus zum ‹Staldengarten› zum Beispiel im Bett und nackt getötet oder bewusstlos fortgeschleppt und dann die Kleider beseitigt worden seien, so lässt sich annehmen, dass eben beim Beseitigen der Kleidungsstücke die Kopfbedeckung am leichtesten vergessen werden sein konnte», notiert Tschudi in seinem Schlussbericht. Die Kappe bewahrte Stüssi gewöhnlich im Kasten auf, während die übrigen Kleider nachts an leicht zugänglichen Orten, auf dem Bett, Tisch oder beim Ofen lagen.

Samstag, 30. September: Der Morgen nach Andreas Stüssis Verschwinden

Einige Tage nach dem Fund der Leiche erhält Tschudi einen Brief. Maurermeister Kaspar Stüssi hat am Tag des Verschwindens einen auffälligen Rauch über dem «Staldengarten» beobachtet. Er sei nicht wie gewöhnlicher Holzrauch gewesen. Tschudi geht das Geraune auf die Nerven. «Es wurde damit angedeutet, es seien damals die Kleider des A. Stüssi verbrannt worden», notiert er.

Tschudi bestellt den Maurermeister und seine Frau ins Verhöramt. Von seinem Haus aus sehe er den «Staldengarten», erzählt Kaspar Stüssi. Er sei am Morgen zwischen sechs und sieben Uhr mit Einfeuern beschäftigt gewesen und habe den Rauch bemerkt, der über dem «Staldengarten» stossweise aufstieg. Früher sei ihm der Rauch im «Staldengarten» nie aufgefallen. Seine Frau meint, es sei ihr zuerst vorgekommen, als ob im «Staldengarten» jemand grünes Tannreisig verbrenne. Dann habe sie kurz gedacht, es sei ein Feuer ausgebrochen. Dann habe sie der Sache keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt. Tschudi schaut auf der Landkarte nach, wie weit Maurer Stüssis Haus vom «Staldengarten» entfernt liegt. Es sind 800 Meter.

Übrigens, sagt die Frau des Maurermeisters, sie habe gehört, ein Ennendaner sei am Samstagmorgen im «Staldengarten» gewesen und habe ein Kind gefragt, wo denn die Mutter sei. Das Kind habe ihm geantwortet, sie verbrenne Hudlen. Dann habe es schnell die Hand vor den Mund gelegt und gesagt, die Mutter habe befohlen, man solle nichts sagen.

Maurermeister Kaspar Stüssi und seine Frau wollen von ihrem Haus aus über dem «Staldengarten» verdächtigen Rauch beobachtet haben. Das Bild ist digital nachkoloriert. 
Maurermeister Kaspar Stüssi und seine Frau wollen von ihrem Haus aus über dem «Staldengarten» verdächtigen Rauch beobachtet haben. Das Bild ist digital nachkoloriert. 
Symbolbild Landesarchiv Glarus

Mittwoch, 4. Oktober: Der Tag des Leichenfunds

Wenig später taucht der alte Landjäger Stüssi im Verhöramt auf. Er erzählt, dass Arbeiter in der Fabrik im Auli den gleichen Rauch gesehen hätten. Die Fabrik liegt nur 300 Meter unterhalb des «Staldengartens». Tschudi befragt die Arbeiter gleich selbst. Webermeister Kaspar Heer sagt, sie hätten den Rauch tatsächlich gesehen, jedoch am 4. Oktober, nachmittags, kurz nachdem die Leiche gefunden wurde. Aus dem Kamin im «Staldengarten» sei ein bläulicher Rauch gestiegen. Beim gewöhnlichen Heizen sei der Rauch immer weiss gewesen. Zwei Arbeiter beschreiben den Rauch hingegen als stark, dicht und weiss. Es habe vorher und nachher nie wieder so geraucht.

Die Fabrik im Auli (rechts) liegt etwas unterhalb des «Staldengartens» an der Klöntalerstrasse. 
Die Fabrik im Auli (rechts) liegt etwas unterhalb des «Staldengartens» an der Klöntalerstrasse. 
Bild Landesarchiv Glarus

«So unbestimmt, ja widersprechend diese Angaben über den Rauch waren, so sahen wir uns doch veranlasst, aus dem Ofen und dem Herde Asche zu entnehmen», notiert Tschudi später im Schlussbericht. Er findet sehr viel Asche. Allerdings fällt ihm in der Asche selber nichts auf. Als er Mutter und Tochter fragt, weshalb so viel Asche im Ofen liege, erklären sie, es sei seit langer Zeit keine weggeschafft worden. Sie hätten weder am Samstagmorgen noch Mittwochnachmittag etwas Besonderes verbrannt. Die Asche schickt Tschudi dem Chemiker nach Zürich.

Später findet Tschudi den Mann, dem das Kind gesagt haben soll, die Mutter verbrenne Hudlen. Dieser «hat aber keine solche Unterredung gehabt und bei seiner Einkehr im ‹Staldengarten› auch nie etwas Auffallendes bemerkt», notiert Tschudi. Der Chemiker aus Zürich schreibt ihm: «Die Frage, ob die Asche von Kleidungsstücken, Wollstoffen oder Leder herrührt, kann weder bejaht, noch verneint werden.»

Wegen des Mageninhalts hat Tschudi noch keinen Bescheid aus Zürich. Der Oktober endet bald und Tschudi hat immer noch niemanden verhaftet. Er muss dem «löblichen Kriminalgericht» jetzt alle paar Tage seine Untersuchungsakten vorlegen. Seine Aufsichtsbehörde scheint unzufrieden.

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland.

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