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Mord im Klöntal (2/8): Drei Männer auf der Brücke

Ein zwielichtiger Geschäftspartner, eine missgünstige Tante und drei dubiose Gestalten am Fluss: Findet Verhörrichter Tschudi die Wahrheit über den Tod von Andreas Stüssi am Grund des Löntschtobels?

Ueli
Weber
25.10.24 - 16:12 Uhr
Glarus
Illustration Ueli Weber/Dall-E

Die Witwe Salomé Stüssi wird im Dorf ihrer Brille wegen «Vieräugli» genannt. Das Verhältnis zu ihrer angeheirateten Nichte Maria Stüssi, der Frau des verstorbenen Andreas Stüssi, beschreibt sie so: «Sie hasst mich.»

Noch am Tag des Leichenfundes meldet sich das Vieräugli bei Verhörrichter Jacques Tschudi, bevor dieser offiziell tätig werden darf. Sie redet auf ihn ein und drängt ihn, wegen Mordes an ihrem Neffen Andreas zu ermitteln. Tschudi sagt dem Vieräugli, sie solle nach Glarus kommen und eine offizielle Aussage machen. Er vernimmt Salomé Stüssi als Zeugin Nummer acht. 

«Ihr habet vorgestern nachmittags uns über das Verschwinden Eures Neffen Mitteilung machen wollen; was habet Ihr nun darüber zu sagen?», fragt Tschudi, während sich der Aktuar über das grosse Verhörbuch beugt und mitschreibt.

«Bei den Gerüchten, die im Laufe waren, befremdete es mich, dass noch kein Untersuch angeordnet worden war», wirft ihm das Vieräugli an den Kopf. «Der Umstand, dass der Leichnam ganz von Kleidungsstücken entblösst war, führte mich auf die Vermutung, dass er ermordet wurde, und kein Selbstmörder ist. Dazu kommt noch, dass die Leute sehr unfriedlich miteinander gelebt haben sollen. Nach meiner Meinung sollte auch Förster Schuler Näheres über diese Sache wissen. Ich glaube, Andreas sei nicht selbst ins Wasser gegangen, sondern hineingeworfen worden. Wird dann durch einen Untersuch die Unschuld der Frau dargetan, so ist es ja für sie auch recht.»

«Was könnt Ihr über das eheliche Leben der Eheleute Stüssi mitteilen?»

«Fürs Erste verliess die Frau den Mann mit vier kleinen Kindern und wollte mit einem andern nach Amerika. Dann – als sie in ihrem Berge hinten wohnten – schlug sie ihn mit dem Pendel einer Standuhr so an den Kopf, dass sie selbst meinte, er sei tot, und dann zu Bauer Salomon Schmid um Hilfe lief.»

Tschudi will wissen, ob jemand der zierlichen Maria Stüssi hätte helfen können, ihren Mann aus dem Weg zu schaffen: «Ihr sagtet mir vorgestern auch, die Frau habe viele Bekannte, die in ihrem Auftrage ihr dieses wohl zuliebe täten; wie war das gemeint?»

Das Vieräugli weicht aus. «Ich erinnere mich an diese Äusserung nicht, möglich ist es, dass ich’s gesagt habe, aber ich mag darüber nichts weiter mehr sagen.» Tschudi hakt nach: Gerade das könnte doch helfen, den oder die Mörder zu finden. «Das Publikum redet so, ich habe nichts gesehen und kann darum auch nicht helfen.»

«Inwiefern glaubt Ihr, dass Kreisförster Schuler Näheres wissen sollte?»

«Feldarbeiter Balthasar Stüssi erzählte in meinem Hause, er habe am Montag den Schuler beim Tobel hinten auf der Strasse getroffen und auf der andern Seite des Löntsch sei Schuhmacher Andreas Stüssi gewesen; er habe den Schuler gefragt, was der dort drüben suche, Schuler habe geantwortet, es sei ihm ein Fuchs entgangen.»

Geschäftspartner auf dem Heuwagen

Förster Markus Schuler ist 25 Jahre alt und geht im «Staldengarten» ein und aus. Wenn er morgens ins Klöntal hochsteigt, um dort Holz zu schlagen, schaut er in der Gaststube vorbei und sagt Guten Tag. Abends kehrt er auf dem Heimweg meistens in der Wirtschaft ein.

Verhörrichter Tschudi bestellt Kreisförster Schuler zum Verhör ein. Er lässt ihn nacherzählen, was er am Wochenende tat, an dem Andreas Stüssi verschwand. Schuler erinnert sich, dass er Stüssi auf dem Heimweg aus dem Klöntal getroffen habe. Ein Knecht fuhr mit einem Heuwagen ins Tal, Stüssi sass hinten im Heu und rief Schuler zu, er solle sich zu ihm setzen. Es begann zu regnen. Stüssi fluchte über das Wetter und erzählte, dass er am nächsten Tag ein Rind holen wolle, weit hinten im Klöntal, in der Rossmatt. 

Andreas Stüssi und Markus Schuler fahren per Anhalter im Heu vom Klöntal ins Tal hinunter. Ohne Staudamm führt der Löntsch mehr Wasser als heute. Der Bildausschnitt ist digital nachkoloriert. 
Andreas Stüssi und Markus Schuler fahren per Anhalter im Heu vom Klöntal ins Tal hinunter. Ohne Staudamm führt der Löntsch mehr Wasser als heute. Der Bildausschnitt ist digital nachkoloriert. 
Bild Landesarchiv Glarus

Schuler und Stüssi sind Geschäftspartner. Als der Kanton den Ausbau der Strasse ins Klöntal ausschrieb, schnappten sie sich zusammen mit einigen anderen den Auftrag für den Bau des Abschnitts von Riedern bis zum «Staldengarten». Die übrigen Unternehmer sprangen einer nach dem anderen ab, und bald blieben nur noch Markus Schuler und Andreas Stüssi übrig. Dessen Frau Maria drängte ihn, auch auszusteigen, aber Andreas Stüssi blieb dabei. Am Ende machte er einen Verlust von 2400 Franken und musste den Arbeitern die versprochenen Löhne abstottern. Das war zwei Jahre vor Stüssis Tod. Mit den ausstehenden Zinsen wuchsen seine Schulden in dieser Zeit auf 13’000 Franken.

Fehlendes Rind und ein verlorener Mann

In ihrem Verhältnis scheint das missratene Geschäft keine sichtbaren Spuren hinterlassen zu haben. Schuler und Stüssi sitzen an diesem kühlen Oktobertag im Jahr 1882 plaudernd auf dem Heuwagen. Im «Staldengarten» angekommen, setzen sich der Knecht, Schuler und Stüssi in die Stube, wo Maria Stüssi dem Knecht einen Most bringt. Sonst seien keine Gäste dort gewesen, versichert Schuler gegenüber dem Verhörrichter. «Der Knecht trank ein Glas Most, ich nichts und als er ausgetrunken hatte, ging ich mit dem Knecht fort und fuhr auf dem Heu bis Glarus.»

Das ist, so behauptet Förster Schuler, das letzte Mal, dass er seinen Geschäftspartner Andreas Stüssi sieht. Am folgenden Samstagmorgen geht er direkt ins Klöntal und kehrt erst abends kurz im «Staldengarten» ein. Dort erzählt ihm Maria Stüssi beunruhigt, dass ihr Mann noch nicht nach Hause zurückgekehrt sei. Das Rind, welches er abholen wollte, hat stattdessen am Nachmittag ein Knecht vorbeigebracht.

«Sie meinte, auswärts könne er im Werktagsgewand nicht gegangen sein», erinnert sich Schuler im Verhör. Stattdessen sei er wohl in Richtung Klöntal gegangen. «Bei alldem war ich nicht beunruhigt und tröstete sie, der komme sicher wieder heim. Er sitze etwa an einem Orte und jasse. Darauf sagte sie, er habe kein Geld bei sich, höchstens wenige Rappen, aber ich versuchte sie immer wieder zu beruhigen und lachte noch dazu.»

Als Schuler sich auf den Heimweg macht, begleitet ihn Maria Stüssi hinaus und bittet ihn, am nächsten Morgen nochmals zurückzukehren.

«Da runterzuspringen wäre dem Andreas zu hoch gewesen»

Am Sonntagmorgen kehrt Schuler wie versprochen zurück zum «Staldengarten». Andreas Stüssi ist noch immer nicht aufgetaucht. Schuler erfährt, dass zwei andere regelmässige Gäste des «Staldengartens», Schuhmacher Andreas Stüssi und Zimmermann Heinrich Sigrist, bereits frühmorgens auf die Suche gegangen sind.

Schuster Andreas Stüssi ist Stammgast in der Wirtschaft seines Namensvetters: Er trinkt auf Kredit und bewahrt sogar sein Jagdgewehr in der Remise auf. Laut den Gerichtsunterlagen ist er erst 17 Jahre alt, womöglich ist dort aber auch etwas durcheinandergekommen. Sigrist ist 34 Jahre alt. Der Zimmermann hat den Sommer über hinter dem «Staldengarten» ein Hühnerhaus gebaut.

Im Verhör schildert Schuler die Vorkommnisse später so: Maria Stüssi habe befürchtet, dass ihr Mann beim Wildheuen verunglückt sei. Als Schuler dort nachsehen will, kommen ihm Sigrist und Stüssi schon entgegen. Kein Mensch sei dort oben zu sehen, berichten sie ihm, keine Spur im Gras zu finden.

Schuler erzählt weiter: «Wir kehrten zurück bis auf die hintere Tobelbrücke, standen lange und sahen hinunter. Andreas Stüssi meinte aber, Andreas sei da nicht hinabgesprungen, das wäre ihm zu hoch gewesen. Von Blut auf der Brücke, von dem geredet worden ist, haben wir nichts bemerkt, aber auch nicht darauf geachtet.»

«Das wäre ihm zu hoch gewesen»: Markus Schuler, Schuhmacher Andreas Stüssi und Zimmermann Heinrich Sigrist stehen auf der Löntschtobelbrücke und sehen lange hinunter. Damals gab es die Steinbrücke noch nicht, sondern einen hölzernen Steg. 
«Das wäre ihm zu hoch gewesen»: Markus Schuler, Schuhmacher Andreas Stüssi und Zimmermann Heinrich Sigrist stehen auf der Löntschtobelbrücke und sehen lange hinunter. Damals gab es die Steinbrücke noch nicht, sondern einen hölzernen Steg. 
Bild Pro Netstal

Drei Männer am Löntsch

Die drei suchen das Ufer des Löntsch ab, so gut es geht. Sie halten Ausschau nach Kleidern und Spuren im nassen Laub. Vielleicht ist Andreas Stüssi am steilen Hang ausgerutscht und hat noch versucht, sich an etwas zu halten, bevor er ins Tobel abstürzte. Die Suche ist gefährlich: Wer einen Blick in die Tiefe der unzugänglichen Schlucht riskiert, riskiert sein Leben gleich mit. 

Während dieser Suche begegnet Schuler dem Feldarbeiter Balthasar Stüssi – so wie es das Vieräugli gesagt hatte. Auf der anderen Seite des Löntsch steigt gerade Schuhmacher Stüssi mit einer Flinte über der Schulter und einem Hund bei Fuss ins Tobel hinab. Schuler sagt zu Balthasar Stüssi: Dem Schuhmacher sei ein Fuchs entwischt, und er gehe ihm nach. Eine Notlüge, behauptet Schuler: «Wir wollten ihm den Grund unseres Suchens absichtlich nicht mitteilen, damit wir nicht Schande und Spott erleben müssen, wenn Andreas wieder heimkäme.»

Dieses Bild des Löntschtobels entstand zwei Jahre nach Stüssis Tod. 
Dieses Bild des Löntschtobels entstand zwei Jahre nach Stüssis Tod. 
Bild Hans Bühler

Sie finden nichts und kehren zum «Staldengarten» zurück. «Bevor wir ernstlich zu suchen anfingen, meinten wir, der Andreas sei vielleicht inzwischen heimgekommen und lache uns dann noch aus», sagt Schuler. «Dies war aber nicht der Fall, und nun erschien auch mir die Sache bedenklicher, und die Frau war natürlich noch beunruhigter als vorher. Sie sagte, er sei sonst nie über Nacht ausgeblieben. Wenn er sich auch versessen habe, so sei er doch noch während der Nacht wieder heimgekommen.»

«Ist Euch im Hause des Stüssi, an der Frau oder andern Bewohnern in den Tagen nach Stüssis Verschwinden etwas aufgefallen?», will Tschudi wissen. 

«Nein. Alle haben geweint, so oft ich sie sah, und gefragt, ob ich noch nichts gefunden habe.»

Verhörrichter Tschudi hat noch einen anderen Verdacht, den er mit Schuler besprechen will. Er fragt: «Die Frau habe früher mit einem Knechte das Land verlassen wollen und dieser soll wieder im Lande sein?»

Schuler antwortet: «Von jenem Vorfalle habe ich gehört, ob es wahr ist, weiss ich nicht. Dieser Knecht ist Alois Kistler, der letztes Frühjahr noch bei ihnen war. Den Sommer über war er bei Hauptmann Blumer in Bilten und nie hier. Bis am Montag, da kam er in den Schlattberg.» 

Ueli Weber ist stellvertretender Redaktionsleiter der «Glarner Nachrichten». Er hat die Diplomausbildung Journalismus am MAZ absolviert und berichtet seit über zehn Jahren über das Glarnerland.

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