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«Hexe» Anna Göldi: Die Zweifel bleiben

Der Historiker Marco Jorio schreibt im Magazin «NZZ Geschichte», der Prozess von Anna Göldi sei kein Hexenprozess gewesen. In der «Südostschweiz» widerspricht Göldi-Museum-Leiter Fridolin Elmer. Darauf reagiert jetzt Jorio mit einer Replik, in der er seine Position erläutert.

Südostschweiz
15.10.18 - 04:30 Uhr
Ereignisse
Anna Göldi Museum.
Anna Göldi Museum
SASI SUBRAMANIAM

Von Marco Jorio

 

Es ist erfreulich, dass die historische Debatte um den angeblichen Hexenprozess von Anna Göldi mit einem Artikel in der «Südostschweiz am Wochenende» (Ausgabe vom 6. Oktober) ihren Weg sogar in die Tagespresse gefunden hat, auch wenn die Debatte vom Tribünenautor Fridolin Elmer gleich als «akademische Frage eines Historikers» für letztlich belanglos qualifiziert wird. Der mir in den Mund gelegte Titel «Streicht Anna Göldi von der Liste der Hexen!» stammt nicht von mir; für eine solche Behauptung sind wir nämlich noch nicht so weit!

Es ist Aufgabe der Geschichtsforschung, immer wieder tradierte historische Gewissheiten zu überprüfen. Auch in der Schweizer Geschichte gibt es solche Geschichten, so etwa die Legende von der Schlacht bei Marignano als Geburtsstunde der Neutralität. Da nützt auch die (überschaubare) Liste von Historikern und Nichthistorikern nichts, die Elmer als Zeugen für den Hexenprozess anführt. Sie alle haben gute Arbeit geleistet, aber keiner von ihnen hat die von zwei deutschen Radikalaufklärern 1783 in die Welt gesetzte Geschichte von der «letzten Hexe» hinterfragt und wissenschaftlich untersucht. Zweifellos handelt es sich aber beim Glarner Prozess von 1782 um einen Justizskandal, ja um einen Justizmord. Aber ein Hexenprozess? Die Geschichte enthält doch zu viele Ungereimtheiten und ist wenig plausibel.

Im abendländischen Europa hören im Allgemeinen die Hexenprozesse in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf. Aber es gibt auch nach 1750 noch vereinzelte Anklagen, gehäuft in Osteuropa, wobei die meisten mit der Einstellung des Verfahrens oder mit einem Freispruch endeten. Für die Schweiz sind nur noch sechs Prozesse für die zweite Jahrhunderthälfte nachgewiesen. Der Glarner Prozess ist der Letzte und steht wegen des unzeitgemässen Todesurteils wie ein erratischer Block ziemlich quer in der historischen Landschaft. Tatsächlich haben nämlich die Glarner schon Ende des 17. Jahrhunderts juristisch mit dem Hexenwahn aufgeräumt: 1698 verschwand der Tatbestand der Hexerei aus der Glarner Blutgerichtsordnung. Nachher gab es keine Hexenprozesse mehr, auch wenn wie anderswo im Volk der Hexenglaube weiterlebte.

1771 kam es zwar nochmals zu einer Anklage wegen Hexerei. Aber das evangelische Gericht liess die Frau laufen, da die «Forcht vor den Hexen bei denen so erleuchteten Zeiten auch bei den Einfältigsten verschwunden seye». Und dieses gleiche Gericht, teilweise wohl die gleichen Richter, soll elf Jahre später einen verkappten Hexenprozess inszeniert haben?

Für Irritation sorgt immer wieder die Tatsache, dass die Justizbehörden im Prozess nie von einer Hexe sprachen. Die unglückliche Göldi wurde als Vergifterin gesucht, inhaftiert, angeklagt, verurteilt und hingerichtet. Zwar hat sie unter Folter unaufgefordert «gestanden», mit dem Teufel einen Pakt geschlossen zu haben, aber nach der Folter sofort widerrufen. Diese Aussagen sagen mehr aus über den Wert von «Geständnissen» unter Folter und wurden denn auch von den Glarner Untersuchungsbehörden als «fast nit glaublich» beurteilt.

Aus den wenigen, bereits publizierten Untersuchungsakten geht im Gegenteil hervor, dass die Richter keine Hexe suchten, sondern auf ganz rationale Art herausfinden wollten, wie Göldi die Nadeln dem Kind verabreicht hatte. Dass die fehlende Anklage wegen Hexerei eine hinterlistige Verschleierungstaktik gewesen sei, ist eine unbewiesene Behauptung.

Der Prozess ist – entgegen den Aussagen im Glarner Landrat, als er vor zehn Jahren über den Fall debattierte – wissenschaftlich noch längst nicht gründlich aufgearbeitet. Wie aber aus dem Glarnerland zu vernehmen ist, soll die längst fällige wissenschaftliche Edition der Prozessakten jetzt im Gange sein und das nächste Jahrbuch des Historischen Vereins soll dem Thema gewidmet werden. Damit bietet sich die Gelegenheit, hieb- und stichfest zu beweisen, dass es sich beim Justizmord von 1782 tatsächlich um einen aus der Zeit gefallenen Hexenprozess handelte. Man wird sehen!

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