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Früher war alles besser

Warum verklären wir die Vergangenheit und blicken mit rosaroter Brille ins Gestern?

27.04.22 - 16:30 Uhr
War früher wirklich alles besser? Historisches Bild aus St. Moritz.
War früher wirklich alles besser? Historisches Bild aus St. Moritz.
Bild Archiv

«OK Boomer» versus «Wa hesch denn du scho erlebt du huere Banane?» Im Blog «Zillennials» beleuchten Vertreterinnen der Generation Z, Nicole Nett und Anna Nüesch, und die Millennials David Eichler und Jürg Abdias Huber in loser Folge aktuelle Themen. Im Idealfall sorgen die vier damit für mehr Verständnis zwischen den Generationen. Minimal hoffen sie, für etwas Unterhaltung, Denkanstösse und den einen oder anderen Lacher zu sorgen.

Die Verklärung der Vergangenheit ist eine Disziplin, in der ich mich auf einem ansehnlichen Level bewege. Ich kann sehr gut nachvollziehen, wie sich die Hauptfigur in Woody Allens «Midnight in Paris» (nicht zu verwechseln mit «One night in Paris». Da geht’s um was anderes. Wikipedia weiss mehr dazu) fühlt. Der Autor Gil Pender, gespielt von Owen Wilson, verklärt das Paris der Goldenen Zwanziger und verbringt Zeit mit seiner Verlobten im heutigen Paris. Um Mitternacht steigt er in ein altmodisches Auto, das neben ihm hält, und reist so in eben diese Epoche und trifft auf Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, Josephine Baker und Salvador Dalí. Mehr soll hier nicht verraten werden. Man betrachte diese kurze Einführung bitte auch als Filmtipp. (Hach, und wieder mal habe ich zwei Fliegen mit einer Klatsche erledigt.)

Zurück zum Thema: Mir geht es ähnlich. Ich würde gerne mal mit einem altmodischen Pistenbully ins Graubünden der Sechziger reisen und miterleben, wie der Tourismus in unserem Kanton so richtig Fahrt aufnimmt. Ältere Generationen – und zu denen zähle ich mich langsam auch – tun ihre rosarote Retrospektive gerne auch kund. Oft zum Missfallen ihrer jüngeren Mitmenschen, die mit mentaler, in besonders ausgeprägten Situationen gar mit physischer Augenrollerei darauf reagieren.

Es ist nachvollziehbar, dass man in Anbetracht der heutigen Zeit gerne in die Vergangenheit abdriftet. In der Ukraine herrscht Krieg. Corona hängt uns noch immer im Nacken und für die Klimaproblematik scheint weit und breit keine Lösung in Sicht zu sein. Wir lesen und hören tagein, tagaus von Krisen und Katastrophen und wenn wir in die Zukunft blicken, verorten wir dort wohl mehr Gewitterwolken als Sonnentage. Nicht nur die allgemeine Schlechtwetterlage verleitet uns Menschen dazu, in der Vergangenheit zu schwelgen und diese mit einer rosaroten Brille zu verklären. Auch unser ganz eigenes Leben scheint uns retrospektiv rosiger.

Aber, war denn früher wirklich vieles besser oder erinnern wir uns einfach lieber an die schönen Momente unserer Vergangenheit? Bereits 1997 sind amerikanische Forscher dieser Frage in einer Serie von Studien im Journal of Experimental Social Psychology nachgegangen. Sie haben herausgefunden, dass ihre Probanden negative Emotionen im Zusammenhang mit gemachten Erfahrungen nach wenigen Tagen bereits vergessen hatten. Bereits kurz nach der Europareise war der unfreundliche Kellner auf der Piazza San Marco in Venedig vergessen, der Mörder-Muskelkater nach dem Velotrip in Kalifornien nicht mehr so relevant und der Streit mit der Schwiegermutter an Thanksgiving nur noch ein angeregter Gedankenaustausch. Kurz zusammengefasst: Schlechte Erinnerungen streichen wir relativ schnell aus unserer Erinnerung.

Während wir Negatives eher vergessen, erinnern wir uns stärker an prägende Erlebnisse aus unserer Jugend. Der sogenannte Reminiszenzeffekt beschreibt in der Psychologie das Phänomen, dass sich viele ältere Menschen an zahlreiche Erfahrungen aus der Zeit erinnern, in der sie zwischen zehn und dreissig Jahre alt waren. In diesem Alter entwickeln wir unsere Identität. Wir kämpfen uns durch das emotionale Schlachtfeld der Pubertät, verlieben uns zum ersten Mal und finden unseren ersten Job. Unser Gehirn speichert einmal gemachte Erfahrungen besser als solche, die sich häufig wiederholen. Diese verschwinden in der Masse des bereits Erlebten.

Kombinieren wir diese beiden Effekte, lässt sich küchentischphilosophisch erklären, warum Menschen ab 40 vermehrt meinen, dass früher alles besser war. Sie erinnern sich besser an früher und vergessen dabei, was zu jener Zeit alles doof war.

In «Midnight in Paris» erkennt der Protagonist irgendwann, dass sich Menschen in jeder Epoche nach der Vergangenheit sehnen, da ihnen ihre Gegenwart glanzlos und langweilig erscheint – und er nimmt seine eigene Gegenwart an. Tun wir es ihm gleich. Akzeptieren wir die Gegenwart mit all ihren Höhen und Tiefen und versuchen wir, die Zukunft zur Bestmöglichen zu machen – für uns und unser Umfeld. Das schliesst ja nicht aus, in schönen Erinnerungen zu schwelgen. Leben sollten wir im Heute. Daraus werden schliesslich die Erinnerungen von morgen – und die werden denn nochmals viel schöner.

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