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Notbremse

Eine heftige Reaktion im Zug bringt Ruch dazu, über die gefühlte Wahrheit zu sinnieren.

Christian
Ruch
15.01.22 - 04:30 Uhr

In «Ruchs Rubrik» beleuchtet Christian Ruch Bedenkliches, Merkwürdiges und Lustiges aus der Region Südostschweiz. Das alles einmal wöchentlich und mit viel Esprit und Humor. Ob Politik, Kultur, Wirtschaft oder Sport – in Ruchs Rubrik hat all das Platz, was sich mit einem Augenzwinkern betrachten lässt.

Seit ich gelernter Diplom-Bündner bin, lege ich eine grössere Empfindlichkeit an den Tag. So etwa neulich, als ich mit der Lieblingsbündnerin an meiner Seite folgendes Erlebnis teilte: Wir sassen im Intercity Zürich – Chur, vor lauter Heimkehrfreude bereits den Gout von Röteli und Salsiz auf den Lippen, als plötzlich drei Mal so ein Tüdelüt ertönte und der Zug abrupt abbremste. Dies verbunden mit der Durchsage, es sei zu einer Notbremsung gekommen, man solle Ruhe bewahren. Die einzigen, die keine Ruhe bewahrten, waren die SBB-Angestellten, die hektisch durch den Zug rannten. Klar, man weiss ja zunächst nicht, was passiert ist, womöglich eine Schlägerei zwischen Geboosterten und Impfgegnern oder sonst was Gravierendes.

Es stellte sich heraus, dass ein leicht derangiert wirkender Mann die Notbremse gezogen hatte, weil er in Wädenswil aussteigen wollte. Ich meinte zur Lieblingsbündnerin, dass er sicher zur Fischer Bettwarenfabrik wollte, um festzustellen, ob man beim Kauf eines Duvets die Füllmenge tatsächlich selber bestimmen kann. Ein nachvollziehbarer Wunsch – dumm nur, dass das die SBB in ihrer Fahrplansturheit nicht akzeptieren wollte, so von wegen ohne Halt bis Sargans. Das Gespräch der SBB-Crew mit dem Mann als An- und Zusammenschiss zu beschreiben wäre daher auch leicht untertrieben.

Diese heftige Reaktion war uns unangenehm. Wissen Sie, wir kommen aus einem Kanton, in dem man respektvoll mit Gästen umgeht. Wo man sogar dann noch Ski fahren darf, wenn sich die ganze Welt drumherum das Virus aus dem Hals hustet. Und deshalb kennt unsere RhB die wunderbare Einrichtung des Halts auf Verlangen, die in poetischem Romanisch alle Gäste verzaubernde «fermeda sün dumanda». Da dürfen Sie garantiert anschissfrei einen Knopf drücken, wenn Sie aussteigen möchten. Denn wir wissen: Die Schönheit der Bündner Berge oder die Anmut einer vom Zug aus erspähten Bündnerin kann das Verlangen, jetzt, sofort auszusteigen, so stark werden lassen, dass nur die «fermeda sün dumanda» Abhilfe schafft.

Der SBB aber möchte ich folgendes sagen: In einer Zeit, da nur noch die gefühlte Wahrheit zählt, ist das Festhalten an Fahrplanfakten lächerlich. Und dass in Deutschland gegen das Virus eine «Bundesnotbremse» (!) beschlossen wurde, sollte eigentlich Beweis genug dafür sein, dass man notfalls auch zu brachialeren Massnahmen greifen muss. Wir in Graubünden haben das begriffen, wir schreiten daher jetzt zur Meldepflicht für Pflegepersonal, das nicht im Beruf aktiv ist. Sie sehen: Notbremse können wir auch. Aber nur, wenn es um die eigenen Leute geht. Der Skilift muss weiterlaufen.

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