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Morrissey und die NFL

Claudio Sidler über seine innere Zerrissenheit bei Musik und Sport

Claudio
Sidler
01.09.22 - 04:30 Uhr
Bild Pixabay

Im Blog «Anpfiff» berichten Journalistinnen und Journalisten jede zweite Woche aus der Südostschweiz-Sportredaktion.

Steven Patrick Morrissey ist einer der begnadetsten Musiker der letzten Jahrzehnte. Bekannt wurde der Engländer als Leadsänger von The Smiths, deren Texte und Musik meine Jugendjahre prägten wie kaum eine andere Band. Seine Lieder begleiten mich seit Jahren wie ein guter Freund durch mein Leben. Eng verknüpft mit seinen Songs sind die schönen, aber auch die weniger guten Zeiten meines Lebens. Bei «How soon is now?» bekomme ich beispielsweise heute noch Hühnerhaut. Eine unerwiderte Liebe ist immer noch tief in diesem Lied verankert.

Auch abseits der Musik war ich mit Morrissey oft auf einer Wellenlänge und konnte mich mit ihm identifizieren. Etwa, als er den britischen Premier Tony Blair und den amerikanischen Präsidenten George Bush für ihre Kriegstreiberei öffentlich kritisierte. Mein Kult um seine Person barg aber auch Gefahren. Als Morrissey in die rechte Szene abrutschte und rechtsextreme und menschenfeindliche Aussagen aneinanderreihte, war es an der Zeit, ihm Adieu zu sagen. Nicht seiner Musik, die ich bis heute höre und mich begeistert. Aber dem Menschen Morrissey, der sich offensichtlich in seinen Gedanken verlaufen hatte.

Dies bringt mich zu einer Frage, die mich schon seit Längerem umtreibt. Kann man den Künstler von seiner Kunst trennen? Ich bin innerlich zerrissen.

Das gleiche Dilemma widerfährt mir auch im Sport. Seit einigen Jahren geht für mich Anfang September eine Zeit der Sehnsucht und des Wartens zu Ende. Dann nämlich beginnt die neue Saison der National Football League (NFL), die amerikanische Football-Liga. Die Sonntagabende mit meinen Freunden, das Fachsimpeln, das Mitleiden, die Freude und die Häme – endlich geht es wieder los. Ich bin vernarrt in den Sport, lese täglich die News aus Übersee. 24 Stunden pro Tag könnte man sich von den unzähligen Websites, Podcasts, TV-Serien und Fernsehsender berieseln lassen und immer tiefer in die Taktiken und Innenleben der Vereine vordringen.

Doch neben all den tiefgreifenden Analysen, wilden Transfergerüchten und klebrig-kitschigen Porträts von Spielern, die in ihrer Stadt zu Thanksgiving Truthähne verteilen, erschüttern seit Jahren haarsträubende Geschichten den Sport. Sie verbreiten sich im digitalen Zeitalter schnell wie der Wind, so auch diejenige von Bills-Punter Matt Araiza. Ihm wird vorgeworfen, an einer College-Party bei einer Gruppenvergewaltigung einer Minderjährigen teilgenommen zu haben. Gleichzeitig steht auch Browns-Quarterback Deshaun Watson im Fokus, dem 24 Masseusen sexuelle Nötigung vorwerfen. Die Dunkelziffer scheint in seinem Fall noch deutlich höher zu sein. Es sind nur zwei von vielen Vorfällen, die in diesem Sport eine besorgniserregende Regelmässigkeit aufweisen. Gerne würde ich dem tatenlosen NFL-Geschäftsführer Roger Goddell das Rückgrat schenken, welches er offensichtlich seit seiner Übernahme als Manager der NFL verloren hat. Das Wertesystem der Liga ist derart desolat, dass ich mich manchmal insgeheim schäme, diesen Sport überhaupt zu verfolgen.

Was mich zur Frage zurückbringt, die mich schon seit Längerem umtreibt. Kann man den Künstler von seiner Kunst trennen? Kann man die Sportler vom Sport trennen? Ich höre weiterhin Morrissey und verfolge die NFL-Spiele, doch beide Leidenschaften hinterlassen mittlerweile einen faden Beigeschmack. Die Trennung von Akteur und Aktion, sie ist kompliziert. Ich bleibe innerlich zerrissen.

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