×

Wie die Alpendohlen

Über einen Basejumper, der mit Vorurteilen aufräumen will.

Bündner Woche
03.08.22 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Wie ein Vogel: Das Basejumping fühlt sich für Marco wie Fliegen an.
Wie ein Vogel: Das Basejumping fühlt sich für Marco wie Fliegen an.
zVg

Von Cindy Ziegler

Wir nennen den jungen Mann in diesem Text Marco*. Wer er ist, will er nicht in der Zeitung lesen. Zu oft schon ist er für sein Hobby angegangen worden. Zu häufig auf Unverständnis gestossen. Um was es ihm beim Basejumping gehe, würden viele nicht begreifen.
Es ist ein heisser Sommertag. Marco sitzt vor seinem Handy. Die Airpods in den Ohren, ein gestreiftes Hemd am Körper. Freundlich lächelt er beim Videoanruf zur Begrüssung. Der Ostschweizer Dialekt drückt beim Wahlbündner immer ein bisschen durch.

Frei wie ein Vogel

Statt vor dem Handy wäre Marco wohl gerade lieber in der Luft. Im freien Fall. Am Fliegen, wie er es nennt. «Es ist tatsächlich genau so, wie ich mir das Fliegen schon als kleiner Junge vorgestellt habe. Beim Basejumping fühle ich mich frei wie ein Vogel. Nicht wie ein Huhn, eher wie eine Alpendohle», sagt er mit einem Augenzwinkern. Wenn er von seinem Hobby – oder besser gesagt, einem seiner vielen – spricht, glänzen die blauen Augen und die Lippen formen ein schmales Grinsen. Die Faszination für das Fliegen habe schon als Kind begonnen. Mit seinen Grosseltern sei er oft in der Nähe eines Flugplatzes gewesen und habe Fallschirmspringenden zugeschaut. Irgendwann habe er auch damit begonnen, so richtig gepackt hat ihn das aber noch nicht. «Ich weiss noch, als ich als Teenager die ersten, rudimentären Wingsuits in einem Laden gesehen habe», sagt Marco. Vom Fallschirmspringen kommt er zum Basejumping. Und erinnert sich auch heute, zehn Jahre nach seinem ersten Sprung, genau an den Moment. «Unvergesslich», kommentiert er.

Sowieso. Beim Absprung komme es ihm immer so vor, als würde alles in Zeitlupe geschehen. «Es ist ein wahnsinnig intensiver Moment. Es gibt sogar Studien, die zeigen, dass die Eindrücke dann direkt im Langzeitgedächtnis gespeichert werden», erklärt der Sportler. Er habe eine Art Ritual vor dem Sprung. Ein Ablauf, ein In-sich-Kehren, das er auch sonst im Leben durchläuft, wenn etwas höchste Konzentration erfordert. «Ich bin dann extrem fokussiert.» Erst wenn alles stimmt, mache er einen Schritt nach vorne. So weit, bis die Zehenspitzen schon über den Abgrund ragen. «Dann kippt man nur noch nach vorne und stösst sich ab. Das ist der Moment, wo man nicht mehr zurück kann», sagt er.

Kein Zurück mehr: Der Moment des Absprungs empfindet der Basejumper oft wie in Zeitlupe.
Kein Zurück mehr: Der Moment des Absprungs empfindet der Basejumper oft wie in Zeitlupe.

Nicht risikofreudig

Wenn Marco spricht, tut er das ruhig, deutlich, eindringlich. Und ziemlich direkt. «Ich bin ein Realist. Und absolut nicht risikofreudig. Das mag viele überraschen, vor allem in Anbetracht meiner Sportwahl», sagt er. Und führt dann gleich weiter aus: «Wie überall im Leben gibt es verschiedene Gruppierungen. Es gibt die Risikofreudigen und die, die das Risiko minimieren. Ich gehöre zu Letzteren und versuche immer, so sicher wie nur möglich zu springen.»

Er sei kein Draufgänger. Und dennoch. Die Gefahr springt mit. Beziehungsweise ist zumindest da, wenn auch nur latent im Hintergrund. «Wenn etwas passiert, fällt man von hoch oben.» Ob ihm das manchmal Angst mache, wollen wir wissen. Marco überlegt kurz. «Ich glaube, Angst ist der falsche Ausdruck. Ich spreche lieber von Respekt. Angst lähmt einen oft. Hindert. Bei mir ist es eher so, dass der Respekt vor dem Springen hilft, es immer mit vollster Konzentration zu tun.»

Oft hören er und andere aus der Szene, dass sie alle egoistische Vollidioten seien. Unnötiges Risiko eingehen, ihr Leben aufs Spiel setzen, andere mitreinziehen würden. Marco schüttelt den Kopf. «Ich springe für mich. Ja, das ist vielleicht egoistisch. Aber ich trage die volle Verantwortung für mein Handeln und bin mir dessen bewusst. Beim Springen gibt es keinen Airbag und keinen Sicherheitsgurt. Ich denke, dass die Tatsache, dass man alleine für sich selbst verantwortlich ist, wichtig ist und vielen Menschen guttun würde.» Der Mann mit den braunen Locken macht eine Pause, geht kurz in sich. «Wenn man einen Freund verliert, macht es das aber auf keinen Fall einfacher.»

Vollste Konzentration: Vor dem Sprung geht der junge Mann in sich.
Vollste Konzentration: Vor dem Sprung geht der junge Mann in sich.

Nicht die einzige Leidenschaft

Er könne nicht verstehen, warum die Leute oft meinen, über seine Passion urteilen zu müssen. Er selbst tue das schliesslich auch nicht. Das Basejumping sei denn auch nicht seine einzige Leidenschaft. «Ich bin konstant auf der Suche nach Freiheit. Nach Bewegung. Nach der Natur. Ich mache Skitouren, gehe surfen, klettern, mountainbiken, wandern.» Kurz überlegt Marco. Dann meint er: «Aber so intensiv wie beim Fliegen ist es nirgends.» Das Schöne an der Luft sei, dass er sich – wie im Wasser – dreidimensional im Raum bewegen könne. Eben genau so, wie wenn die Alpendohlen ihre Kunststücke vollführen. Frei wie ein Vogel. Und doch wird Marco irgendwann mit dem Basejumping aufhören. «Es ist nicht das Einzige, was mich glücklich macht. Ich freue mich auch über Blumen auf dem Weg zum Startplatz, über Zeit mit meinen Liebsten, über guten Pulverschnee im Winter. «Beim Basejumping muss man immer in Form sein. Das ist extrem zeitintensiv. Irgendwann werde ich dafür keine Zeit mehr haben.»

*Name der Redaktion bekannt

Inhalt von buew logo
Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.
Mehr zu Leben & Freizeit MEHR