×

Sucht in Zeiten von Corona

Die Läden und die Grenzen sind gleichermassen geschlossen und die Kinder sind 24 Stunden am Tag daheim – da wird es eng für Menschen mit einer Suchterkrankung. Besonders Menschen, die von illegalen Substanzen abhängig sind, haben es schwer. Noch schwerer aber haben es oft deren Kinder.

27.04.20 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit
Die aktuelle Corona-Situation hat auch einen Einfluss auf Suchtkranke.
Die aktuelle Corona-Situation hat auch einen Einfluss auf Suchtkranke.
PIXABAY

Seit sechs Wochen verharrt die Schweiz im Lockdown. Schulen sind geschlossen. Gearbeitet wird bestenfalls im Homeoffice. Auch das Leben neben der Arbeit spielt sich zuhause ab. Das läuft bei allen Familien schlussendlich auf dasselbe hinaus: «Ganz generell bedeutet der Lockdown für alle Familien das Gleiche. Es entsteht mehr Nähe als normalerweise üblich. Und somit auch mehr Konflikte», erklärt Michelle Halbheer, Autorin des Buchs «Platzspitzbaby». Halbheer wuchs bei ihrer heroinabhängigen Mutter auf und weiss aus eigener Erfahrung, was es heisst, in einem suchtbelasteten Umfeld zu wohnen. Auch Rahul Gupta, Chefarzt Spezialpsychiatrie der Psychiatrischen Dienste Graubünden (PDGR), bestätigt das Konfliktpotenzial des Lockdowns. «Die Spannung in der Familie steigt. Der Stresspegel steigt langsam, aber konstant.»

Besonders bei etwa durch eine Suchtkrankheit vorbelasteten Familien kann das zum Problem werden. «Mit dem Stresspegel steigt auch der Konsum», sagt Gupta. Der grosse Knall blieb bisher aber aus. «Das wird aber noch passieren», vermutet er. Gut, dass die PDGR auch von den Lockerungen des Lockdowns ab Montag profitieren kann. Denn in den letzten sechs Wochen durften, wie in allen Spitälern, nur noch Notfallbehandlungen durchgeführt werden. «Und eine Alkoholentwöhnungsgsbehandlung ist keine Notfallbehandlung», erklärt der Chefarzt. Gerade weil Gupta davon ausgeht, dass man die Folgen des Lockdowns noch länger spüren werde, sei es wichtig, dass die Angebote der PDGR wieder hochgefahren werden können.

Finanzielle Herausforderung

Der steigende Konsum ist nicht das einzige Problem. Besonders bei illegalen Drogen kämen noch weitere Herausforderungen dazu, erklärt Michelle Halbheer: «Die Grenzen sind zu, gewisse Stoffe sind nicht oder nicht mehr in der gleichen Menge verfügbar. Das spiegelt sich im Preis wider.» Vor dem Lockdown lag der Preis eines Gramms Heroin auf der Gasse zwischen 50 und 80 Franken, gemäss Margrith Meyer, Leiterin des Ambulatoriums Neumühle in Chur. Bei bestehender Abhängigkeit benötigen Heroinkonsumenten zwischen 0,5 und drei Gramm pro Tag, verteilt auf eine oder mehrere Injektionen. Wie hoch der Preis während dem Lockdown ist, ist unklar. Er dürfte durch die geschlossenen Grenzen aber um ein Vielfaches gestiegen sein.

«Manche Menschen kommen damit gut klar, sie leben alleine und können zwischendurch mal etwas mehr in die Drogen investieren», erzählt Halbheer. Aber halt nicht alle. «Die Familien, die sonst schon wegen der Drogenbeschaffung am Rand der Existenz leben, müssen die Verteuerung der illegalen Substanz mit dem Familienbudget auffangen. Oder aber die Substanz ist dann einfach nicht verfügbar, was zu noch mehr Stress führt.»

Rahul Gupta ist Chefarzt Spezialpsychiatrie bei den Psychiatrischen Diensten Graubünden.
Rahul Gupta ist Chefarzt Spezialpsychiatrie bei den Psychiatrischen Diensten Graubünden.
ARCHIV

Die Sucht als Risiko

Auch für heroinabhängige Menschen, die im Ambulatorium Neumühle in Chur medizinisches Heroin beziehen können, bringt die neue Situation Stress. «Wir mussten die Frequenz reduzieren. Bisher kamen die Patienten zwei Mal pro Tag um sich ihre Dosis zu injizieren. Nun dürfen sie nur noch einmal am Tag vorbeikommen», erzählt Gupta. Schliesslich handle es sich bei heroinabhängigen Menschen um eine Hochrisikogruppe. Teilweise kam diese Massnahme zwar gut an, gewisse Patienten kämen damit aber nicht klar. «Ihnen fehlt die zweite Injektion. Auch wenn die tägliche Dosis Heroin gleichbleibt, da wir ihnen jeweils eine Tablette mitgeben, erzielt diese nicht die gleiche Wirkung, wie eine Injektion», erklärt er. Deswegen wichen einige Patienten auf das Gassenheroin aus. Das führe dann häufig zu Infektionen und anderen Komplikationen.

Michelle Halbheer (Mitte), Autorin von «Platzspitzbaby» weiss, was es heisst, in einem suchtbelasteten Umfeld aufzuwachsen.
Michelle Halbheer (Mitte), Autorin von «Platzspitzbaby» weiss, was es heisst, in einem suchtbelasteten Umfeld aufzuwachsen.
ARCHIV

Kinder trifft es doppelt

Als Tochter einer heroinabhängigen Mutter geht Michelle Halbheer, die mittlerweile 34 ist, die aktuelle Situation sehr nahe. «Es kommen Erinnerungen an meine Kindheit hoch», sagt sie, denn besonders die Kinder würden unter der aktuellen Situation leiden. Ihre einzige «Fluchtmöglichkeit», die Schule, öffnet nicht vor dem 11. Mai. «Die Kinder müssen zuhause unterrichtet werden. In Familien, in denen alles funktioniert, ist das bereits eine Herausforderung. In vorbelasteten Familien ist das Homeschooling eine massive Belastung», erklärt Halbheer. In diesen Familien fehle es manchmal einerseits an den finanziellen Mitteln, die erforderliche Infrastruktur für den Unterricht zuhause bereitzustellen, andererseits aber auch an der nötigen Ruhe, die ein Kind zum Lernen brauche. «Es stellt sich nicht die Frage, ob diese Eltern die nötige Unterstützung geben wollen, sondern ob sie dazu in der Lage sind», sagt Halbheer. Kinder spüren dies doppelt. Zusätzlich zu dem erhöhten Konfliktpotenzial daheim kommt auch der schulische Druck hinzu, die gewohnten Leistungen zu erbringen.

Die Beistandsfrage

Seit dem Erscheinen ihres Buchs «Platzspitzbaby» setzt Halbheer sich dafür ein, dass mehr für die Kinder von suchtkranken Menschen getan wird. «Der Tenor war immer, dass diese Kinder sehr gut betreut werden von ihren Beiständen.»

Auch in der PDGR sind suchtkranke Eltern in Behandlung. «Einem Kind einen Beistand zu stellen, ist eine sehr tiefgreifende Massnahme», sagt Rahul Gupta. «So ein Prozess nimmt Zeit in Anspruch und bedarf intensiver Abklärungen. Wir machen keine leichtfertigen Gefährdungsmeldungen.»

Bei den Beiständen selber zeigt sich ein anderes Bild: «Die Beistände haben mir gesagt, dass sie oftmals zu viele Fälle gleichzeitig erhalten, bis zu 40 verschiedene. Deshalb kämen sie manchmal höchstens einmal im Monat dazu, die Kinder zu sehen», sagt Halbheer. Die KESB Nordbünden gab auf Anfrage zu verlauten, sie hätten keine Zeit, Fragen dazu zu beantworten.

Den Kindern, die es zuhause aktuell besonders schwer haben, wünscht Michelle Halbheer, dass sie ihre Fantasie und ihre Träume nicht verlieren. «Träumt euch so hoch hinauf im Leben, wie ihr nur könnt. Flüchtet euch in eure Traumwelt. Träumt in den buntesten Farben. Lasst euch von der Realität nicht unterkriegen.»

Mara Schlumpf ist Redaktorin und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Ursprünglich kommt sie aus dem Aargau, hat ihr Herz aber vor einigen Jahren an Chur verschenkt.

Kommentieren
Wir bitten um euer Verständnis, dass der Zugang zu den Kommentaren unseren Abonnenten vorbehalten ist. Registriere dich und erhalte Zugriff auf mehr Artikel oder erhalte unlimitierter Zugang zu allen Inhalten, indem du dich für eines unserer digitalen Abos entscheidest.

Andererseits ist gerade bei Jugendlichen der innere Zusammenhalt in der Familie wichtig. Besonders Suchtgefährdete brauchen das nahe Umfeld um sich in unserer Gesellschaft angenommen zu fühlen, aber es braucht auch Begeleitung in belasteten Familien. Für Kinder ist es umso mehr problematischer sie müssen sich bewegen können, Spielkameraden treffen und hier kann es durchaus zu Spannungen führen. Da uns Corona die nächsten Jahre beschäftigen wird müsste unsere Gesellschaft lernen einfacher, mit den gegebenen Ressourcen wie soziales Zusammenleben, den Umgang mit der Natur und die Verantwortung gegenüber der 3. Welt umzugehen.

Mehr zu Leben & Freizeit MEHR