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Die «illegale» Pfarrerin im Prättigau

Eine Frau als Pfarrerin ist heute kein seltenes Bild. In den 1930er-Jahren sah dies noch anders aus. Damals, als Greti Caprez-Roffler in einem kleinen Dorf im Prättigau als erste Frau Europas zur Pfarrerin gewählt wurde und fortan für die Rechte der Frauen kämpfte. So, wie es ihr am Frauenstreiktag am 14. Juni viele Bündnerinnen gleichtun wollen.

Corinne
Raguth Tscharner
12.06.19 - 04:30 Uhr
Leben & Freizeit

1931: Das Jahr, in dem die Weltwirtschaftskrise wütete, die Christusstatue in Rio de Janeiro eingeweiht und Al Capone verurteilt wurde - und das Jahr, in dem ein 200-Seelen-Dorf im Prättigau etwas wagte, das man so in Europa noch nie zuvor gesehen hatte.

Am 13. September wählte die Kirchgemeindeversammlung von Furna die 25-jährige Greti Caprez-Roffler einstimmig zur Pfarrerin. Dass eine Frau als Pfarrerin alleine für eine Gemeinde verantwortlich ist, war ein absolutes Novum in der Schweiz. Und, obwohl es in vereinzelten europäischen Ländern bereits weibliche Pfarrerinnen gab, war wohl keine von ihnen vom Volk gewählt worden.

«Wir sind ja schon nah genug beim Himmel, da reicht es, wenn uns ein ‹Femininum› den Weg weist», soll ein Bauer aus Furna damals gesagt haben. Das berichtet die Enkelin der ersten Pfarrerin Graubündens, Christina Caprez*. Sie ist Soziologin, Historikerin und Journalistin und hat sich intensiv mit der Geschichte und den Tagebüchern ihrer Grossmutter auseinandergesetzt und hat sie als Kind selbst erlebt. «Sie hatte eine starke Präsenz, ein starkes Charisma und einen ebenso starken Willen.»

Wie David gegen Goliath

Obwohl es in Furna 1931 zur Tatsache wurde, konnten sich viele eine Frau an der Kanzel nicht vorstellen. Die kirchlichen Behörden in Chur akzeptierten Caprez-Roffler nicht als Pfarrerin. «Sie sagten, es sei nicht möglich, dass eine Frau zur Pfarrerin gewählt werde, da es nirgends im Gesetz stehe. Dafür brauche es zuerst eine Verfassungsänderung und eine Volksabstimmung», so die Enkelin. Auch eine Genehmigung als Aushilfe war keine Option für den Kirchenrat, der schliesslich auch hart durchgriff. «Sie schickten den kantonalen Finanzbuchhalter nach Furna, der das Vermögen der Kirchgemeinde konfiszierte», erzählt Caprez weiter. Greti Caprez-Roffler konnte also nicht bezahlt werden.

«Ich habe es zuvor vielleicht geahnt, aber noch nie mit so grausamer Deutlichkeit erfahren müssen, dass es eine Schande ist, ein Weib zu sein», hält Greti Caprez-Roffler zu dieser Zeit selbst auf Papier fest. Sie kämpfte aber weiter und arbeitete zwei Jahre lang ohne Lohn, dank der finanziellen Unterstützung ihres Vaters und ihres Mannes.

Das Dorf steht hinter seiner illegalen Pfarrerin

In Furna stand man aber hinter Caprez-Roffler. «Es herrschte Pfarrermangel und man war froh, dass man überhaupt jemanden gefunden hatte», so Christina Caprez. «Als ein kleines Dorf ohne Strom und ohne Postverbindung sowieso.» Ausserdem sei ihre Grossmutter von klein auf mit dem Dorf verbunden gewesen.

Dennoch, ganz so einfach war es dann doch nicht. So habe ein Mann bei ihrer ersten Taufe gefragt, ob diese nun auch wirklich gelte, erzählt ihre Enkelin. Greti Caprez-Roffler habe geantwortet: «Ja, denn es ist egal, was die unten in Chur sagen. Es ist vor allem wichtig, was der Herrgott im Himmel sagt.»

Gegen aussen zeigte sich die Pfarrerin also selbstbewusst. «In ihrem Innern sah es aber anders aus», ist sich Caprez sicher. Briefe an ihren Grossvater würden zeigen, dass ihre Grossmutter schon auch ihre Zweifel hatte. «Ob sie wirklich von Gott berufen war. Ob sie bei so viel Widerstand das Amt nicht aufgeben sollte.» Dass die Gemeinde sie gebraucht habe, habe ihr jedoch die nötige Kraft gegeben, das auszuhalten.

Sie wollte alles vom Leben

Und so hat Greti Caprez-Roffler weitergekämpft. Auch in Dörfern am Heinzerberg oder Rheinwald, wo sie später tätig war. «Auf der Kanzel hat sie Reden für die Gleichberechtigung gehalten und sie hat sich dafür eingesetzt, dass Mädchen mehr Rechte haben», sagt Christina Caprez. Beispielsweise bestärkte sie diese darin, in die Sekundarschule oder das Gymnasium zu gehen und führte Skihosen für Mädchen ein. «Das war damals revolutionär und ein Skandal.»

Caprez-Roffler selbst verfolgte vieles, das Frauen in ihrer Zeit sonst nicht wirklich zugestanden hatte. «Aber eher aus pragmatischen als aus ideologischen Gründen», sagt ihre Enkelin. So trug die erste Pfarrerin Graubündens beispielsweise Hosen und sprach offen über das Thema Sex. «Sie wollte alles vom Leben – ihrer Berufung nachgehen, eine Familie haben, eine erfüllte Liebe leben. Das war damals für Frauen nicht denkbar.»

*Christina Caprez veröffentlicht bald ein Buch über ihre Grossmutter, «Die illegale Pfarrerin». Es handelt von deren Lebensgeschichte und betrachtet das Bild, das man von ihr als berufstätige Frau und als Familienmensch hat, differenziert. Zur Recherche hat sich Caprez in die Tagebücher und Briefe von Greti Caprez-Roffler vertieft und mit deren Kindern, Freundinnen und Freunden und Weggefährtinnen gesprochen.

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Corinne Raguth Tscharner ist stellvertretende Chefredaktorin Online und Zeitung und Chefin vom Dienst bei «suedostschweiz.ch». Zuvor erlernte sie das journalistische Handwerk als Volontärin in vier verschiedenen Redaktionen (Print, Online, Radio, TV) und war als Online-Redaktorin tätig.

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